Was plant Putin 2023?Fünf Entwicklungen, die der Nato Sorgen machen

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Russlands Präsident Wladimir Putin.

Russlands Präsident Wladimir Putin.

Westliche Geheimdienste glauben: Russland plant neue Machtproben. Mobilisiert Wladimir Putin nochmal 500.000 Mann für die Front? Nutzt er Belarus als Joker in einem neuen Nervenkrieg? 

Lange sah aus westlicher Sicht alles verblüffend gut aus. Noch Ende 2022 klopften zufriedene Politiker und Militärs aus den Nato-Staaten abwechselnd den wackeren Ukrainern und sich selbst auf die Schultern.

Die russischen Landstreitkräfte hatten sich in der Ukraine militärisch blamiert. Die ukrainische Armee dagegen beeindruckte den Rest der Welt mit Mut, Kampfkraft und Professionalität. Und die Nato, quicklebendig, wurde zum wichtigsten Unterstützer der Ukraine – mit einer Entschlossenheit und einer Geschlossenheit, die Freund und Feind verblüfften.

Seit Anfang 2023 aber hat sich die Tonlage im Bündnis geändert: Eine neue Ernüchterung ist spürbar, auf der Bühne und noch mehr hinter den Kulissen.

„Wir sollten Russland nicht unterschätzen“, mahnt Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg neuerdings bei jedem seiner öffentlichen Auftritte. „Putin zeigt nicht das geringste Anzeichen, sein Ziel, die Unterwerfung der Ukraine, aufgeben zu wollen.“

Zum Jahreswechsel hatten westliche Geheimdienste in Moskau greifbare Mosaiksteine zu einem alarmie­ren­den Bild zusammengesetzt. Demnach glaubt Putin, trotz aller anfänglichen Erfolge der Ukraine am längeren Hebel zu sitzen und den Krieg noch immer gewinnen zu können, notfalls mit Masse statt Klasse, was die russischen Soldaten und die russischen Waffen angeht.

„Das Problem ist: Der Westen könnte tatsächlich verlieren“, sagt ein Nato-Insider, der nicht namentlich zitiert werden will. Man brauche rasch einen Dreh an diversen Stellen gleichzeitig, mit einer schnelleren Lieferung von mehr modernen Waffen. „Wenn alles so weiter läuft wie bisher, gewinnt am Ende Putin.“

Mit Blick auf Russland gelten im Bündnis fünf aktuelle Befunde derzeit als besonders beunruhigend.

1. Verstörende Starrheit: „Putin will es jetzt wissen“

Die Neujahrsrede des Präsidenten fiel düsterer und pathetischer aus denn je. Darin sagt Putin, nun sei die Zeit gekommen, einer „heiligen Pflicht“ zu folgen und „das Mutterland zu verteidigen“. Dies schulde die heutige Generation der Russinnen und Russen ihren Vorfahren ebenso wie ihren Nachkommen. Russland habe „die moralische und historische Wahrheit“ auf seiner Seite.

Auch für die längst an Moskaus Lügen gewöhnten westlichen Beobachter war Putins Text starker Tobak. Ungerührt präsentierte der Kremlherr zur Kernfrage der Kriegsschuld eine orwellianische 180‑Grad-Verdrehung der Wirklichkeit: „Der Westen hat uns angelogen, während er sich auf eine Aggression vorbereitete.“

Der russische Einmarsch in die Ukraine am 24. Februar 2022 – eine Aggression des Westens? Viele tippen sich angesichts solcher Worte nur an den Kopf und rollen die Augen.

Russland-Experten in den Hauptstädten der Allianz dagegen fanden nichts an dieser Rede lustig. In Inhalt und Ton wurde der Auftritt Putins hier und da sogar gedeutet wie der Aufruf zu einem neuen „Großen Vater­ländi­schen Krieg“.

Schon oft hatte sich Putin im Konflikt mit der Ukraine auf die kolossale Kraftanstrengung der Sowjetunion 1941 bis 1945 gegen Hitlerdeutschland berufen. Jetzt, sagen Analysten, ziehe er diese abwegige Gleich­setzung mit verstörender Starrheit weiter durch: Putin wolle es jetzt wissen. Dass westliche Regierungen ihn deswegen abschreiben, sei ihm egal, er suche keine „off ramps“, Auswege in Richtung Verhandlungslösung, sondern nur noch die Machtprobe.

Über diese negative Deutung gab es zwischen Washington und Berlin eine breite Übereinstimmung. Am 5. Januar, nach einem Telefongespräch, verkündeten US‑Präsident Joe Biden und Bundeskanzler Olaf Scholz das Ende ihrer Zurückhaltung in der Schützenpanzer-Frage. Die USA werden im Frühjahr Fahrzeuge vom Typ Bradley liefern, Deutschland stellt Marder zur Verfügung.

2. Mobilisierung: Zieht Russland weitere 500.000 Männer ein?

Putin hat bereits im Herbst 2022 rund 300.000 Männer zusätzlich an die Front beordert. Das reicht ihm jedoch nicht. Der russische Präsident will offenbar abermals eine wohl mittlere sechsstellige Zahl zusätzlicher Soldaten zusammentrommeln lassen.

Über den genauen Umfang weiterer Rekrutierungsmaßnahmen in Russland gehen bei den Geheimdiensten die Einschätzungen auseinander. Vadym Skibitsky, stellvertretender Chef des ukrainischen Militär­geheim­dienstes, sagte der britischen Zeitung „Guardian“, er rechne noch für Januar mit der Mobilisierung weiterer 500.000 Mann.

Ein weiterer Schritt zur Gewinnung frischer Kräfte könnte darin liegen, dass Putin entgegen seinen bisherigen Zusagen auch die Verlegung von russischen Wehrpflichtigen an die Front befiehlt. Als mögliche Begleit­maßnahme gilt die Abriegelung der russischen Außengrenzen, sodass nicht erneut Hunderttausende ins Ausland entwischen.

Niemand in der westlichen Allianz sagt es laut. Aber Rekrutierungen in diesen Größenordnungen könnten die Kräftebalance in Europa so sehr beeinflussen, dass die Nato weitere Truppenverlegungen und eine Erhöhung ihrer Gefechtsbereitschaft erwägen müsste.

3. Belarus: Ausgangspunkt eines neuen Nervenkriegs?

Im Laufe des Jahres 2022 haben die russischen Militäraktivitäten in Belarus immer weiter zugenommen. Anfangs ging es vor allem um gemeinsame Übungen, zuletzt stand die Stationierung russischer Raketen sowie russischer Flugabwehrsysteme im Mittelpunkt. Die Minsker Regierung selbst gab im Dezember bekannt, es seien unter anderem russische Iskander-Raketen, die auch Atomwaffen tragen können, nach Belarus verlegt worden. Die Iskander fliegt bis zu 500 Kilometer weit.

Die wachsende russische Präsenz in Belarus beflügelte in den vergangenen Wochen die Theorie, Russland werde im Laufe dieses Jahres erneut versuchen, Kiew von Belarus aus anzugreifen. Für möglich gehalten wird in Kiew sowie bei der Nato aber auch das Szenario eines bloßen Nervenkriegs: Moskau könnte mit einer Attacke im Norden drohen, um die Ukraine dazu zu bewegen, Kräfte aus dem Süden abzuziehen.

Angst zu schaffen im Westen ist für Moskau immer gut
Anonymer Insider

Schwarzmaler zeichnen neuerdings sogar das Szenario von Provokationen, die sich von Belarus aus gegen die Nato richten: „Was machen wir eigentlich, wenn die ihre Geschütze nicht nach Süden drehen, wie allseits erwartet, sondern nach Norden, auf die baltischen Staaten, oder nach Westen, Richtung Polen?“ Belarus könnte, selbst wenn am Ende die angedrohte Eskalation ausbleibt, zum Dreh- und Angelpunkt neuer Kraftproben werden, die nicht nur die Ukraine beschäftigen. „Angst zu schaffen im Westen ist für Moskau immer gut“, sagt ein Insider. „Belarus wäre dafür ein guter Ort.“

4. Propaganda: Moskau prahlt mit Todesverachtung

Als bedrohliches Zeichen gilt in westlichen Militärkreisen die wachsende demonstrative Todesverachtung im russischen Staatsfernsehen. Allen Ernstes betonte dort zu Jahresbeginn Wladimir Solowjow, einer der bekanntesten Putin-Propagandisten, das Leben als solches werde „völlig überbewertet“.

Schon oft hatte Solowjow hervorgehoben, Russen zeichne es aus zu wissen, wofür es sich zu sterben lohne. Den russischen Soldaten an der Front sei dies sehr bewusst. Endlich, sagte ein anderer Moderator mit Blick auf den Ukraine-Krieg, hätten Land und Leute etwas vor Augen, das größer sei als sie selbst. Das Staats­fernsehen beantwortet auch die Frage, was nach einem möglichen Tod im Atomkrieg kommt: „Wir kommen in den Himmel“, versichert Solowjow. Die „Bastarde“ im Westen und die „Neonazis“ in der Ukraine dagegen seien die Beute Satans.

Die makabre aktuelle Umsetzung dieses todesverachtenden russischen Denkens war zuletzt in der ukrainischen Region Bachmut zu besichtigen. Dort hatten russische Kommandeure immer neue junge Leute so lange in Richtung der ukrainischen Linien in den Tod geschickt, bis der Gegenseite irgendwann die Munition ausging. „Meat grinder“ (Fleischwölfe) nennt man solche tödlichen Engpässe – die die sich nur durch Inkaufnahme wahnwitziger Opferzahler überwinden lassen.

Putin sendet, indem er die Fleischwölfe an der Front ebenso laufen lässt wie die Solowjow-Propaganda auf „Russia 1″, eine ebenso archaische wie brutale Botschaft nach Westen: Hört mal her, was wir mit unserem Blut bezahlen, das behalten wir auch. Und wer wie ihr Weichlinge im Westen grundsätzlich nichts mit seinem Blut bezahlen will, der muss eben weichen.

5. Wirtschaft: Die Zeit arbeitet nicht für Kiew

Erstaunt hat Putin mittlerweile zur Kenntnis genommen, dass der Westen zu umfangreichen Waffenhilfen für die Ukraine bereit ist – sogar mit Unterstützung von ehedem pazifistisch ausgerichteten Parteien wie den Grünen in Deutschland. Doch auch unabhängig vom Streit um Waffen sieht Putin gute Chancen, im Jahr 2023 Zwietracht im Westen zu säen. Schon die von den USA und der EU finanzierte Aufrechterhaltung der Staat­lichkeit und der Wirtschaft in der Ukraine verschlingt wachsende Milliardenbeträge. Nicht nur im neuerdings republikanisch dominierten US‑Repräsentantenhaus, auch in europäischen Parlamenten könnten schon bald die Widerstände gegen diese Hilfen wachsen.

Die russische Besatzung hat auch einen – in den westlichen Gesellschaften oft übersehenen – ökonomischen Effekt. „Obwohl die Ukraine auf die Invasion heldenhaft reagiert und ihr Militär brillante Leistungen erbracht hat, liegt die Wirtschaft des Landes in Trümmern“, betonen dieser Tage die frühere US‑Außenministerin Condoleezza Rice und der frühere US‑Verteidigungsminister Robert Gates in einem gemeinsamen Aufsatz in der „Washington Post“.

Klarer Fall: Jeder Beschuss eines Elektrizitätswerks schafft nicht nur menschliche Dramen, sondern versetzt auch einer Vielzahl von Firmen einen Schlag.

„Millionen Menschen sind geflohen, die Infrastruktur des Landes wird zerstört, und ein Großteil seiner Bodenschätze, Industriekapazitäten und beträchtlichen landwirtschaftlichen Flächen sind unter russischer Kontrolle“, halten Rice und Gates fest. „Die militärischen Fähigkeiten und die Wirtschaft der Ukraine hängen jetzt fast vollständig von Lebensadern aus dem Westen ab.“ Deshalb müsse der Westen sich mit seinen Waffenlieferungen sehr viel mehr beeilen. Die Zeit arbeite nicht für Kiew.

Die Ukraine in den Tatzen des russischen Bären: Wer will, kann darin eine Strategie Putins sehen. Der Kremlherrr setzt darauf, dass das angegriffene Land zunehmend leidet – und dass jene, die der Ukraine derzeit noch helfen, sich irgendwann wieder abwenden.

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