Philologenverband NRW„Haben uns schwer getan, keine blauen Briefe zu verschicken“

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Auch Computersucht ist nach Meinung von Sabine Mistler eine Folge der Corona-Krise für viele Schülerinnen und Schüler.

  • Sabine Mistler ist Vorsitzende des Philologenverbands NRW.
  • Im Interview zieht sie eine Bilanz zum Corona-Schuljahr.
  • Mistler meint: Lehrerinnen und Lehrern mangelt es an Aussttattung und Know-How für den digitalen Unterricht.

Köln – Frau Mistler, welcher Aspekt der Pandemie hat Schülerinnen und Schüler am meisten getroffen?

Mistler: Der soziale Aspekt. Zurückgeworfen zu sein auf den engsten Kreis der Familie und einen eingeschränkten Freundeskreis – wenn überhaupt –, das war ein großes Problem, gerade für die Schülerinnen und Schüler vom fünften Schuljahr an aufwärts. Jüngere Kinder haben sich schon mal auf dem Spielplatz getroffen, doch die Älteren sahen sich seltener draußen. Das führte zu Vereinsamung, zum Rückzug auf soziale Medien, auch zu Computerspielsucht.

Was bedeutet Lehren und Lernen? Hat die Pandemie dazu neue Erkenntnisse geliefert? Wir alle haben erlebt, dass Lernen im sozialen Umfeld, also die Präsenz in den Schulen, das Lernen ist, was wir brauchen. Sowohl, was die fachliche Komponente betrifft als auch die pädagogische. Es geht eben nicht bloß um das Beaufsichtigen von Kindern und Jugendlichen, wobei auch das ein Aspekt ist, den man nicht vernachlässigen darf.

„Viele Jugendliche haben sich zurückgezogen“

Welche Rolle spielte in diesem Zusammenhang die Digitalisierung? Ich glaube, sie hat geholfen, dass sich Schülerinnen und Schüler neu organisieren mussten, und sie mussten sich mit neuen Formen des Lernens auseinandersetzen. Schon als im ersten Lockdown die Aufgaben per Mail oder Handy kamen, musste man sich einen Plan machen, musste man eine Struktur aufbauen, um diese Aufgaben sukzessive anzugehen.

Zur Person

Sabine Mistler ist Vorsitzende  des Philologenverbands NRW. Sie ist Gymnasiallehrerin, Studiendirektorin und unterrichtete zuletzt Englisch und Sport am Gymnasium Lindlar. Seit 2000 ist sie Personalrätin für Lehrerinnen und Lehrer an Gymnasien und Weiterbildungskollegs bei der Bezirksregierung Köln.

Ich höre auch durch Kolleginnen und Kollegen, dass viele zu hoher Konzentration gefunden und intensiv mitgearbeitet haben. Auf der anderen Seite gibt es viele Jugendliche, die sich stark zurückgezogen haben – es sind sicher eher die jüngeren Kinder, die verloren gegangen sind, und solche, die wenig Unterstützung durch das Elternhaus erfahren haben.

Wie können Lernlücken geschlossen werden? Alle Förderprogramme, die auf Bundesebene beschlossen werden, sind wichtig und richtig. Wir sehen allerdings auch eine starke Notwendigkeit dahingehend, dass Unterstützung aus dem System selber kommt. Wir brauchen mehr Lehrpersonal, Sozialpsychologen und Pädagogen, befristet oder unbefristet, die zum Beispiel die Möglichkeit eröffnen, kleinere Lerngruppen zu bilden. Gerade für diejenigen, die jetzt den sportlichen Auftrag haben, ihr Abitur nach Maßgabe von G8 zu machen, bedeutet das eine Aufholjagd.

Das ist eine riesige Herausforderung – wenn wir sie innersystemisch angehen könnten, durch Personal in den Klassen oder Programme wie „Schüler helfen Schülern“, könnten wir viel individueller die Förderung von Kompetenzen betreiben. Und das können die Lehrerinnen und Lehrer am besten beurteilen. Sie kennen die Lernenden, sie sind die Experten, die Defizite am besten identifizieren können. Es ist die Verbindung zwischen fachlicher Expertise und dem Blick auf pädagogisch-soziale Fragen, die die Kompetenz der Lehrkräfte ausmacht.

„Wir brauchen fachspezifischen Input“

Es gab teilweise herbe Kritik an Lehrerinnen und Lehrern, nach dem Motto, dass viele die Corona-Zeit genutzt hätten, um sich um den Garten zu kümmern. Da wurde vieles, was bei der Digitalisierung über das vergangene Jahrzehnt hinweg allein schon bei der Ausstattung versäumt wurde, auf die Lehrkräfte projiziert. Unseren Lehrerinnen und Lehrern fehlte nicht allein die Ausstattung, es mangelte an datenrechtlichen Grundlagen, die bis heute noch nicht ganz geschaffen sind. Das Videokonferenztool von Logineo, auf das NRW setzt, hat noch ein paar Tücken, das bricht zu oft noch zusammen. Wir mussten dafür kämpfen, dass im Landtag die entsprechenden rechtlichen Voraussetzungen zum Lernen auf Distanz geschaffen wurden, etwa mit Blick auf die Benotung.

Aber Digitalisierung bedeutet doch mehr als die Bereitstellung einer funktionierenden Infrastruktur? Was wir brauchen, ist fachspezifischer Input. Es geht um die fachbezogene Didaktik, um Methodik – wie kann ich naturwissenschaftliche oder mathematische Inhalte online richtig vermitteln? Dieses Wissen fehlt vornehmlich den Kolleginnen und Kollegen an den Gymnasien und den Gesamtschulen.

Es wird also auch im Lehramtsstudium noch nicht angemessen gelehrt? Das ist rudimentär. Auch das muss noch etabliert werden.

„Eine solche Entscheidung trifft kein Lehrer leichtsinnig“

Wie stehen Sie zum zweiten Bildungssicherungsgesetz der NRW-Regierung, das unter anderem vorsieht, dass Schüler nicht versetzt werden könnten, obwohl keine blauen Briefe verschickt werden? Wir haben uns schwer damit getan, als es darum ging, auf die blauen Briefe zu verzichten. So wie wir es problematisch finden, dass Schülerinnen und Schüler nach der Erprobungsstufe durch Elternwillen in die Klasse 7 versetzt werden können. Als Philologenverband wünschen wir uns grundsätzlich, dass die Entscheidungen der Lehrerkonferenz am Ende der Erprobungsstufe maßgebend sind.

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Es geht ja nicht um „Abschulen“, sondern darum, jedem Kind die Laufbahn zu ermöglichen, die ihm optimale Entwicklung erlaubt. Eine solche Entscheidung trifft kein Lehrer leichtsinnig. Aber wir wissen auch, dass unter den Vorzeichen der Pandemie hier andere Voraussetzungen herrschen – deshalb unsere Forderung nach individueller Förderung und mehr Personal.

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