Das WM-Aus und die FolgenIst Deutschland nur noch Mittelmaß?

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Antonio Rüdiger sitzt nach dem WM-Aus reg- und sprachlos auf dem Rasen.

Das peinlichste Turnier aller Zeiten – für die Deutschen: Antonio Rüdiger sitzt nach dem WM-Aus reg- und sprachlos auf dem Rasen.

WM, Katar und die Deutschen – das war von Anfang an ein Missverständnis. Das kollektive Unbehagen im Land übertrug sich auf den Platz. Ist die Fußballpleite symptomatisch für den Zustand des Landes?

Als Deutschland um kurz vor Mitternacht Katar-Zeit aus der WM ausscheidet, breitet sich weltweit ein sehr deutsches Gefühl aus, für das es einen weltweit bekannten deutschen Begriff gibt: Schadenfreude. Japanische Fans halten sich im Stadion die Münder zu in Anlehnung an die Geste der deutschen Nationalspieler vor dem Auftaktspiel. Die Botschaft: Ätsch, jetzt seid ihr rausgeflogen! Schon die Katarer hatten gelästert, Deutschland solle sich lieber aufs Fußballspielen konzentrieren.

Hohn und Spott zum Schluss

Der Urheber einer der berühmtesten Fußballsprüche der Geschichte nimmt das WM-Aus gar zum Anlass, sein Bonmot an die neue Lage anzupassen. „Fußball ist ein einfaches Spiel. 22 Männer jagen 90 Minuten einen Ball und am Ende gewinnen immer die Deutschen“, sinnierte der englische Stürmer Gary Lineker einst. Nun fügt er auf Twitter hinzu: „Wenn sie es durch die Gruppenphase schaffen.“ Dazu postet er ein Video, in dem er sich mit zwei weiteren englischen Ex-Stars hysterisch-lachend auf die Schenkel haut. Die Reaktionen passen zu einer aus deutscher Sicht unrühmlichen WM, die hierzulande keiner wollte, die das Land in zwei Lager teilte: in Boykottierer und Zuschauer mit schlechtem Gewissen.

Es ist, so viel steht schon jetzt fest, eine WM der Superlative: die umstrittenste aller Zeiten, die politischste, die teuerste. Für Deutschland ist das Turnier nun auch das peinlichste aller Zeiten. Und das gilt nicht nur für die sportliche Ebene. Am Ende gewinnen immer die Deutschen? Das gilt schon länger nicht mehr – nicht nur im Fußball. Widrigkeiten und Debatten übertönten regelmäßig das Sportliche. Noch vor dem Turnier dachten die Deutschen, sie könnten den Diskurs mit einem Stück Stoff kapern. „One Love“ stand auf der Kapitänsbinde, die Neuer vor der WM gerade einmal in drei Spielen getragen hatte.

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Nun sollte sie den Katarern symbolisieren, dass man ihre LGBTQ-feindliche Politik ablehne. Trotz Fifa-Gegenwind verkündete DFB-Boss Neuendorf noch einen Tag vor dem ersten deutschen Spiel mit breiter Funktionärsbrust, an der Binde festzuhalten. Am nächsten Tag streift sich Neuer wegen schlimmer Sanktionsdrohungen doch die offizielle Fifa-Version über. Die deutschen Spieler verbaten sich symbolisch mit der Hand vor dem Mund die Zensur. Doch konsequent war ihr Handeln nicht. Schlimmer noch: Innenministerin Nancy Faeser trug auf der Tribüne zwar die „One Love“-Binde zu ihrer weißen Bluse, ließ sich aber mit Fifa-Boss Gianni Infantino ablichten, der schadenfroh grinsend auf ihren Arm deutete. Punktsieg für die Fifa.

Kritik im Rückwärtsgang

Dasselbe wiederholte sich in der Weltpolitik. Im März verneigte sich Habeck tief vor dem katarischen Handelsminister, dankbar für versprochene Gaslieferungen. Im November sagte er zur Vergabe der WM an Katar, dass diese nicht anders als durch Korruption erklärt werden könne und brüskierte die Scheichs. Am Golf umgarnen, zu Hause draufkloppen? Wenige Tage später verkündete das Emirat eigenmächtig, dass es ab 2026 Gas nach Deutschland liefern werde, 15 Jahre lang, Habeck nannte die Laufzeit „super“. Klassischer Gegenkonter und Punktsieg Katar. Die Posse um die Binde sowie Habecks Spagat stehen für das ambivalente deutsche Verhalten gegenüber den Gastgebern: Zeigefinger ja, aber im Rückwärtsgang bei gebückter Haltung.

Die Deutschen und ihre Doppelmoral, dieser Eindruck setzte sich international fest. Die in Deutschland so unbeliebte WM wird für die Katarer derweil zur Erfolgsstory. Die Fifa vermeldet Fabelquoten für die Vorrunde, in mehreren Ländern bricht die WM TV-Rekorde. Auf der Welt wird wie erhofft mehr über Fußball geredet als über Menschenrechte und Tausende gestorbene Bauarbeiter. Während die Katarer feiern, zerlegt Deutschland sich nun selbst. Von Beginn an war die weltweite Wahrnehmung anders als in Deutschland und den nordischen Ländern, der Keimzelle des Protests. Mit den Dänen und den Deutschen sind die größten Störenfriede nun raus aus dem Turnier.

Heim-EM: Neubeginn muss warten

Dabei waren einige hierzulande durchaus bereit, sich auf einen Euphoriebooster im Winter einzulassen. Nach einer unterirdischen Quote zum Auftaktspiel und verbesserten Zahlen zum Spanien-Spiel verfolgten das Costa-Rica-Spiel mehr als 17 Millionen Zuschauer. Der Aufwärtstrend ist nach dem Ausscheiden nun obsolet. Die Deutschen und die WM in Katar – das war von Anfang an ein Missverständnis. Das kollektive Unbehagen im Land übertrug sich auf den Fußballplatz. Viele Spieler waren überfordert von der Erwartung, nicht nur sportliche, sondern auch politische Botschafter zu sein.

Während andere Nationen ihre „WM-Helden“ feierten, wartete man hierzulande nur darauf, das Turnier irgendwie hinter sich zu bringen. Die gesellschaftliche Spaltung zeigte sich auch im 26-Mann-Kader des Bundestrainers. Es gab Spieler wie Leon Goretzka, die die Umstände des Turniers klar kritisierten. Ilkay Gündogan wünschte sich nach dem Spanien-Spiel, dass „die Politik vorbei ist“. Gegen Costa Rica spielten sie Seite an Seite im Mittelfeldzentrum. Auch die Mund-zu-Geste soll im Spielerkreis nicht einvernehmlich unterstützt worden sein. Hansi Flick, dessen Kernkompetenz darin besteht, ein eingeschworenes Team zu schaffen, versagte nicht nur in dieser Hinsicht.

Doch die nahe Heim-EM in nur zwei Jahren dürfte der Grund sein, weshalb Flick aller Voraussicht nach Bundestrainer bleiben wird. Den bereits qualifizierten Deutschen bleiben schlicht zu wenige Spiele, um sich neu aufzustellen. So muss der Neubeginn warten, wieder einmal. Der Mythos der Turniermannschaft ist jedenfalls endgültig dahin. Und damit eine Gewissheit, die Deutschland über Jahrzehnte begleitet hat: heitere WM-Stimmung alle vier Jahre, darauf konnte sich die Mehrheit noch einigen.

Deutschland – Mittelmaß?

Dieses Ohnmachtsgefühl, das sich nun in der deutschen Fußballseele ausbreitet, findet sich schon länger auch in anderen Bereichen. Die Infrastruktur? Straßen- und Schienensanierungen sind ein Herkulesprojekt. Die Bundeswehr? Bedingt abwehrbereit. Klimaziele? Deutschland hechelt international hinterher. Dazu kommen Energieengpass und Blackout-Ängste im Winter. Eine hinkende Digitalisierung – nicht nur an Schulen. Einem Land, das sich darauf beruft, zur Weltspitze zu gehören, scheint intern in immer mehr Feldern die Luft auszugehen. Anspruch und Wirklichkeit passen oft nicht mehr zusammen.

Droht Deutschland, dem Exportweltmeister, jahrelang tonangebend in Fußball, Wirtschaft und Politik, das Mittelmaß? Bei der Nationalmannschaft beginnt nun erst mal das Aufräumen. „Ich habe ein bisschen Angst davor, in ein Loch zu fallen“, sagte Joshua Kimmich bedröppelt nach dem Costa-Rica-Spiel. „Für mich ist heute der schwierigste Tag meiner Karriere.“ Das erinnert an einen weiteren sonderbaren deutschen Begriff, der in aller Welt gerne ohne Übersetzung benutzt wird: Weltschmerz. Er trifft den Gemütszustand – nicht nur der Fans – derzeit sehr gut.

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