Die Leichtigkeit des SpielsWie Deutschland 1972 den EM-Titel holte

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Umstellt von hunderten deutschen Fans war das Spielfeld in Brüssel kurz vor dem Abpfiff des EM-Finales im Juni 1972.

Köln – Fünf Minuten vor dem Ende beginnt ein fulminantes Gedrängel hinter dem Tor von Sepp Maier. Der deutsche Keeper läuft auf die vielen hundert Menschen zu, die kurz davor sind, auf den Rasen des Brüsseler Heysel-Stadions zu eilen, euphorisiert vom Ergebnis. Mehrmals muss Maier die Fans verscheuchen, Schiedsrichter Marschall aus Österreich denkt sogar an Abbruch, eine einmalige Situation. Doch irgendwie bekommt Maier die Zudringlichen doch noch so lange beruhigt, bis Marschall abpfeifen kann – es steht 3:0, Deutschland hat die UdSSR im Finale um die vierte Fußball-EM 1972 beherrscht. Anschließend beginnt ein skurriler Platzsturm.

Günter Netzer, in den Tagen der EM in der Form seines Lebens, erinnert sich noch gut an das bizarre Finale des Endspiels: „Als ich die vielen Leute wahrgenommen habe, bin ich zum Franz Beckenbauer gegangen und habe ihm gesagt: »Lass uns am Seitenrand spielen, damit wir uns schnell in Sicherheit bringen können.« Das hat auch geklappt. Wir waren sehr schnell in der Kabine“, erzählt Netzer dem „Kölner Stadt-Anzeiger“.

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Helden einer Generation: Beckenbauer (l.) und Netzer.

Zuvor hatte die deutsche Elf eines ihrer begeisterndsten Länderspiele gezeigt, wie sie überhaupt im Jahre 1972 einen spielerischen Zenit erreichte. Der Finalerfolg gegen die Sowjets war in keiner Sekunde gefährdet. Bundestrainer Helmut Schön spürte vor dem Spiel, dass seine Elf nicht nur eigenverantwortlich handeln würde, sondern, dass ihr kein Trainer der Welt irgendetwas Inhaltliches mit auf den Weg zu geben braucht. Denn er verfügte in jenen Juni-Tagen vor 49 Jahren über eine Ansammlung fußballerisch Hochbegabter. Schön brach seinen Vortrag vor der Taktiktafel während der letzten Teambesprechung vor dem Anpfiff in der Kabine ab und sagte: „Ach, macht doch was ihr wollt.“

Gerd Müller trifft zur Führung

Ja, so sei es gewesen, sagt Netzer, „Helmut Schön hat sich dabei ertappt, dass es nicht notwendig war, uns auf die Russen einzustellen, Name für Name. Das ist das größte Kompliment, das ich in meinem Fußballerdasein erlebt habe: Dass ein Trainer einer Mannschaft derartiges Vertrauen entgegenbringt und sagt: »Ihr wisst schon, was ihr macht.«“.

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Tor für Deutschland, Müller (l.) trifft zum 1:0.

Und wie sie es wussten. Gerd Müller, ebenfalls in Top-Verfassung, erzielte die Tore zum 1:0 (28.) und 3:0 (57.), Herbert Wimmer traf zum 2:0 (52.). Es war vor allem die Art und Weise, wie die Deutschen die Müller-Tore herausspielten, die begeisterte. Vor dem 1:0 dribbelte Beckenbauer über das Feld, passte vor dem Strafraum auf Müller, Ablage für Netzer, Volleyschuss mit rechts an die Latte, den Abpraller jagte Jupp Heynckes auf das russische Tor, ehe der Ball vom russischen Schlussmann auf Müllers Brust prallte. Ableger auf den Fuß, Tor.

Das 3:0 war für die frühen 1970er Jahre ein Meisterwerk des Tempospiels: Müller dribbelt den Ball rasant durch das Mittelfeld, passt scharf auf Heynckes, der zentral vor dem Strafraum steht. Direktpass zu Hans-Georg Schwarzenbeck, Vorlage für den durchgelaufenen Müller, 3:0. Da kann es durchaus passieren, dass Zuschauer vor lauter Begeisterung daran denken, ihre Helden gleich auf dem Platz zu umarmen. Letztlich ging von dieser Aktion die größte Bedrohung für den deutschen Erfolg aus.

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Massen sahen das Spiel.

Nach dem Spiel dichtete die internationale Presse Hymnen auf die Deutschen. Die belgische Zeitung „La Libre“ hatte ein „Wunderteam“ gesehen. Der „Corriere dello Sport“ aus Italien sah ein „Schauspiel der Kraft, Fantasie und Genialität“. Und im „Daily Express“ war zu lesen: „Die Deutschen spielen jenen Sonnen-Fußball, den das übrige Europa vergessen hat.“

EM hatte keinen großen Stellenwert

Ein EM-Turnier hatte damals noch keinen großen Stellenwert. Eine Endrunde bestand noch aus vier Teams. Deutschland bezwang  Gastgeber Belgien im Halbfinale dank eines Müller-Doppelpacks mit 2:1. Der Finaltag, Sonntag, 18. Juni 1972, lag zudem noch vor dem 33. Spieltag der Bundesliga, der eine Woche später ausgetragen wurde. Jedes Team konnte nur 18 Mann in seinen Kader berufen. Auf deutscher Seite fehlte darin der Kölner Wolfgang Overath, der infolge einer Leisten-Operation passen musste.

Netzer konnte sich daher frei entfalten. Das tat er schon im Viertelfinal-Hinspiel am 29. April 1972 im Londoner Wembley-Stadion - Overath fehlte damals aus demselben Grund. Dank eines fulminanten Auftrittes, zu dem auch das vom Boulevard als „Ramba-Zamba-Fußball“ skizzierte Wechselspiel zwischen Beckenbauer und Netzer gehörte, gewannen die Deutschen mit 3:1 und damit erstmals in England. Das Rückspiel endete zwei Wochen später 0:0, Deutschland war für die Endrunde in Belgien qualifiziert.

Jubel-Feier nur in der Kabine

Eine Jubel-Feier gab es allenfalls in der Kabine. Die Sieger bekamen nach dem Finale ein Essen serviert – ihre Frauen fehlten dabei. Von der Uefa gab es nicht mal eine Medaille. Netzer wurde von einem Freund abgeholt, „Mönchengladbach war ja in der Nähe, wir sind noch in der Nacht in meine Disco gefahren. Viel los war dort aber nicht. Da habe ich dann diesen Abend ausklingen lassen. Unglaublich.“

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Der Kern dieser Europameister-Elf wurde – allerdings ohne den angeschlagenen Netzer, dafür mit Overath – zwei Jahre später Weltmeister. Auf dem Weg zum Titel fand die Elf aber nicht mehr zur spielerischen Leichtigkeit des Frühsommers 1972.

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