Tagebuch des Schreckens

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Mit Blumen übersät war das Grab der getöteten Geschwister Sonja und Tom nach der Beisetzung.

Mit Blumen übersät war das Grab der getöteten Geschwister Sonja und Tom nach der Beisetzung.

Die Verbrechen an den Geschwistern aus Eschweiler sind in einem digitalen „Protokoll“ detailliert geschildert. Die Polizei fand die Diskette im Hausmüll.

Das Schicksal der Geschwister Tom und Sonja ist an einem Sonntag Ende März kurz nach 15.30 Uhr besiegelt. Markus Wirtz (28) schlägt seinem Nachbarn Markus Lewendel (33) vor, man solle doch wieder einmal „am Rad drehen“. Den beiden Männern geht es beileibe nicht um eine Sause durch ihren Heimatort Eschweiler. Seit knapp einem Jahr streifen sie im Wagen von Wirtz durch die Gegend. Die Männer haben es auf Mädchen zwischen zehn und 14 Jahren abgesehen. Monatelang wollen sie ihre Opfer festhalten, um sie zu missbrauchen. Nahezu jeden Tag streifen sie durch die Gegend, im Kofferraum liegen eine Tasche mit Elektroschocker, Einweghandschuhen, Handschellen, eine Zange und Kabelbinder bereit.

Längst leben der Elektroniker und der Gebäudereiniger in einer eigenen Welt. Nächtelang haben sie billigen Rotwein gekippt, lassen dabei ihren sexuellen Gewaltfantasien freien Lauf. Im Internet schauen sich die beiden Seiten mit jungen Mädchen an. Das reicht nicht mehr. Häufig genug malen sie sich aus, die Kinder zu quälen. Sie schaukeln sich gegenseitig hoch, entwickeln eigene Codewörter.

Lewendel leitet sein „Protokoll" über die Morde an Tom (11) und der Sonja (9) mit den Worten ein, man sei auch an jenem Sonntag auf der Suche nach „Frischfleisch“ gewesen. Häufig genug sinnieren die beiden über den Ernstfall. Für die Männer wird das Kind zum Objekt von Begierde, Macht, Gewalt und Perversion. Sie wollen einen Kindersexring aufbauen. Denn mit normaler Arbeit komme man eh nicht weiter, notiert Lewendel.

Wirtz und Lewendel sind schon eine Weile unterwegs, als sie an der Siedlung Patternhof Tom und Sonja entdecken. Der Junge will seiner kleinen Schwester die Kuhle zeigen, die sie auf dem Schwarzen Berg gefunden haben. Die Eltern haben ihnen erlaubt, dort vor dem Abendbrot ein wenig zu spielen. Die Kinder wachsen sehr behütet auf. Es gibt feste Regeln, feste Zeiten, an denen sie wieder zu Hause sein sollen. Selten dürfen sie alleine fort. Eindringlich haben Vater und Mutter die Kindern gemahnt, nicht mit fremden Männern zu gehen. Doch als Markus Lewendel ihnen an der Mulde seinen Videothekenausweis vorhält und sich als Polizist ausgibt, sind sie arglos. Diese Szene soll Lewendel häufig schon im Geiste durchgespielt haben. Sein Komplize hat sich extra eine Polizeijacke zugelegt. Wirtz behauptet später, sein Freund Lewendel habe ihn dann aufgefordert den Elektroschocker einzusetzen und sei enttäuscht gewesen, dass der nicht funktionierte, weil die Batterien zu schwach waren.

Die Entführer fesseln und knebeln die Kinder und verstecken sie im Fond des Wagens. Sie fahren ziellos umher. Sie lügen den Kindern vor, dass man sich auf dem Weg zu einer Wache befinde, wo die Eltern sie abholen werden. In der Dunkelheit rollen sie in eine Tiefgarage und sperren Tom in den Kofferraum. Sie fahren auf einen Parkplatz, setzen Sonja eine Augenbinde auf und bugsieren sie in die Wohnung von Wirtz. Das Mädchen wird ans Bett gefesselt. Sie diskutieren über das Schicksal des Jungen. In seiner perfiden Logik schreibt Lewendel im „Protokoll“, der Junge habe beseitigt werden müssen, da er die Schwester nicht beschützt habe.

Wirtz fährt los. Gleich mehrfach telefoniert er mit seinem Komplizen, weil der Junge nicht aufhört, gegen die Kofferraumklappe zu treten. Lewendel stachelt ihn nach Erkenntnissen der Ermittler an, das Vorhaben auszuführen. Auf dem Rastplatz Mückenloch erwürgt Wirtz schließlich den Jungen, der sich verzweifelt wehrt. Der Täter verliert eine Elektrozange, die ihn später überführen wird. Als er zurückfährt, kreist der Hubschrauber über ihm, der die Kinder sucht.

Das Mädchen muss in der Folgezeit sexuelle Handlungen über sich ergehen lassen. In der Nacht bewacht Wirtz die Gefangene. Sein Kumpel Lewendel schreibt derweil: „Das ist der absolute Wahnsinn.“

Lewendel steigert sich in einen Machtrausch. Mit seinem Umfeld kommt er seit Jahren nicht mehr klar. Im Haus, in dem er lebt und als Hausmeister tätig ist, macht er sich wegen seines rüden Umgangstones unbeliebt. Zweimal fällt er wegen exhibitionistischen Verhaltens vor Mädchen auf. Er ist streitsüchtig, explodiert schnell und nach Aussage seines Freundes randvoll mit wirren Gewaltszenarien. Im betrunkenen Kopf drückt er Wirtz minutenlang die Luft ab. Doch die beiden vertragen sich wieder.

Man kennt sich von der gemeinsamen Vorliebe zum Motorsport. Wirtz wächst als Einzelkind auf. Von der Mutter verzärtelt, liegt er meist mit dem Vater über Kreuz. Seitdem der seinen Job verloren hat, trinkt er schon am Morgen, brüllt, schlägt den Sohn. Zu Hause hat Wirtz das Gefühl, ein Versager zu sein. Ständig nörgelt der Vater an ihm herum. Von Frauen hält er sich fern. Er hat Angst vor ihnen, seit er als Azubi mit einem Mädchen im Bett lag und die ihn auslachte, weil sich nichts tat. Unter Arbeitskollegen gilt er als Sonderling. Er hat häufig Krach mit seinem Vorgesetzten. Frust und Hass auf seine Umgebung bricht sich zusehends Bahn. Er beginnt zu trinken, immer wieder rastet er im Betrieb aus. Daheim schlägt er irgendwann zurück, als der Vater erneut handgreiflich wird. Der Zeitpunkt ist erreicht, an dem er gehen muss. 2001 zieht er zu seinem Freund Lewendel ins Haus in der Nordstraße in Eschweiler.

Im Desaster endet seine Parteikarriere bei der CDU. Weil man keinen anderen hat, wird der farblose Pummel zum Vorsitzenden der Jungen Union der Stadt gekürt. Aber auch hier sieht er nur Feinde, die gegen ihn arbeiten. Er tritt aus, weil die Parteivorsitzende Angela Merkel den Irak-Krieg befürwortet. Im Verhör äußert er später sein Unverständnis, dass man einzig wegen der amerikanischen Öl-Interessen Krieg führe, unter dem viele unschuldige Menschen leiden müssen.

Am Montagmorgen nach dem Mord an dem Jungen geht Wirtz zur Arbeit. So als wäre nichts gewesen. Lewendel spielt den Aufpasser. Er lässt den ganzen Tag den Kinderkanal im Fernsehen laufen, obwohl das Mädchen immer noch die Augenbinde trägt. Sonja redet nicht viel, das Mädchen ist völlig verängstigt, erkundigt sich mitunter nach ihrem Bruder. Immer ist der Hubschrauber zu hören. Es klingelt häufiger an der Tür Lewendels. Der wird unruhig und bittet seinen Kumpan nach Hause zu kommen. Daheim beratschlagen die Männer erneut: Sonja muss auch sterben. Die Männer tragen das Kind ins Auto. Sie fahren in Richtung Nürburgring. Bei Blankenheim steuern sie in einen Waldweg. Sie tragen Sonja ein Stück. Auf dem matschigen Grund rutschen sie aus. Als Lewendel dem Mädchen die Paketschnur um den Hals legt, klagt es über Atemnot. Lewendel antwortet eiskalt: „Das ist auch der Sinn der Sache.“ Doch der Mörder braucht dann die Hilfe seines Komplizen, um die Tat zu Ende zu bringen.

Nach Hause zurückgekehrt, geben sich beide so, als sei nichts gewesen. Sie diskutieren, wie es wäre, wenn noch ein Kind verschwinden würde. Wirtz, der bei den Maltesern seinen Wehrersatzdienst versieht, hilft bei der Suche nach den Vermissten. Zehn Tage nach dem Mord an Sonja, tauchen Kripobeamte an der Haustür auf. Sie erkundigen sich bei Lewendel nach seinem Nachbarn Wirtz. Der fährt einen schwarzen Kleinwagen. Ein ähnliches Auto wurde von einem Zeugen gesehen. Außerdem hat sich der 28-jährige Computerfreak auffällig häufig auf der Internetseite der Aachener Kripo getummelt. Lewendel gibt vor, dass er nicht wisse, wann Wirtz nach Hause komme. Tags darauf besucht der Hausmeister die Beerdigung der Kinder. Die Kripo hat indes DNA-Spuren an der Zange und am Klebeband gefunden. Als Exhibitionist wird Lewendel von den Ermittlern zur Speichelprobe gebeten, auch Wirtz soll sich melden. Er beschließt zu verschwinden, Lewendel will sich zunächst stellen, fährt aber dann doch mit. Am 14. April flüchten beide nach Frankreich. Lewendel hat seiner Mutter einen Abschiedsbrief hinterlassen. Die Mordkommission erfährt tags darauf, dass Wirtz unentschuldigt am Arbeitsplatz fehlt. An seinem Arbeitsplatz stellen sie einen Lolli sicher. Auf ihm entdecken die Labortechniker die DNA, die auch auf der Zange am Tatort gefunden wurde. Ein Fingerabdruck auf einem Klebeband überführt Lewendel. Die Flüchtigen werden zur internationalen Fahndung ausgeschrieben. Ziellos irren die Gesuchten umher. Sie schlafen kaum, sind sich uneins, wie es weiter gehen soll. Wirtz schlägt vor, ein Mädchen zu kidnappen, es nach Aachen zu bringen, um eine Million Euro zu erpressen. Die Männer bereisen Norditalien, ehe sie bei der Rückfahrt in der Schweiz gefasst werden.

Die Staatsanwaltschaft geht von der besonderen besondere Schwere der Schuld aus. Sollte das Gericht dem folgen, so können die Angeklagten bei lebenslanger Freiheitsstrafe nicht nach 15 Jahren freigelassen werden. Uwe Krechel, Verteidiger von Markus Wirtz, spricht hingegen von „schweren psychischen Krankheitsbildern, die meinen Mandanten in einer Welt der Gewaltfantasien leben lassen.“ Sein Kollege Wolfram Strauch, der Markus Lewendel vertritt, will das endgültige Urteil einem psychologischen Gutachten überlassen: „Wir müssen abwarten, welche Vorwürfe sich der Verhandlung bestätigen und welche Angaben der Gutachter über Motivlage und Hintergründe der Taten machen kann.“ Der Prozess soll im Herbst beginnen.

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