KunstprojektSachverstand statt Stigma

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Cecilia, 10 (links) und ihre Kunstmentorin Christina, 17, vom Nak Nak-Atelier

Heute wird Ertan nicht unsicher beäugt, heute wird ihm aufmerksam gelauscht – im „Saal der Bewegung“, der ohne weiteres auch Saal der Begegnung heißen könnte. Hier, in der Turnhalle des Sozialen Zentrums Lino-Club e.V. in Lindweiler haben sich Jung und Alt versammelt, Groß und Klein, mit und ohne Behinderung, von Deutschland oder anderswo, um am integrativen Freizeitprogramm „Saal in Bewegung“ teilzunehmen. Rund 30 an der Zahl.

Kunst in der Höhe

Sechs Kinder von der Kita Marienberger Weg sitzen im Kreis um Ertan, verfolgen mit großen Augen wie der 22-jährige Kunstexperte gekonnt die Farben mixt – und mischen unter seiner Regie kräftig mit. Am anderen Ende des Saals lässt sich eine Seniorin, die hier für gewöhnlich den Gymnastik-Kurs „Fit für“ besucht, von Künstlerin Christina (17) zeigen, wie sie die rechteckige Pappe bändigt, die später als Teil eines großen Kunstwerks von der Decke schweben wird. Dort in schwindelerregender Höhe steht eine Dame mit bunt besprenkelten Kittel und bringt die ersten Exponate an.

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„Nak Nak“-Künstler Ertan in seiner Welt der Farben.

Ertan und Christina gehören zum zehnköpfigen Künstlerkreis des „Nak Nak“-Ateliers. Christina ist Schülerin, Ertan ist für eine Woche freigestellt von seiner Arbeit in der Werkstatt für Menschen mit Behinderung der Sozial-Betriebe-Köln, um den Teilnehmern des Freizeitprogramms gemeinsam mit Christina und der „Nak Nak“-Atelierleiterin Sisko Zielbauer bei der künstlerischen Umgestaltung der Turnhallen-Decke zur Seite zu stehen.

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Zu Beginn der Decken-Kunstaktion

Zu Beginn der Decken-Kunstaktion

Und die ist bitter nötig, denn die Holzdecke ist, um es ohne Umschweife auszudrücken, genauso schäbig und heruntergekommen, wie die Turnhalle, Baujahr 1964, an sich. Dabei ist sie einer der wenigen Orte, an dem sich die Bewohner Lindweilers und der angrenzenden Stadtteile treffen können, um eines der vielfältigen Freizeit- und Sportangebote des „Lino-Clubs“ wahrzunehmen.

Bürger geben auf

Weshalb die Stadt auch schon vor vier Jahren ein integriertes Handlungskonzept beschlossen hat, das beinhaltet, dass sich der Lino-Club zum Stadtteilzentrum weiterentwickelt – und ein neues, generationenübergreifendes Bürgerhaus entsteht, wo unter anderem auch Konfirmationen, Taufen, Kommunionen gefeiert werden können. „Viele Bewohner protestieren und verlieren allmählich den Glauben an das Bauprojekt“, sagt Lino-Club-Geschäftsführer Hans-Josef Saxler, „unsere Aktion »Saal in Bewegung«, soll deshalb auch ein Zeichen an die Bevölkerung sein, dass wir optimistisch sind, dass es bald losgeht“ – die öffentliche Ausschreibung des Vergabeverfahrens laufe bereits.

„Saal in Bewegung“ ist aber auch ein Symbol dafür, dass der „Lino-Club“ trotz enormer Verzögerungen der Baumaßnahmen den Stadtteilbewohnern wacker weiter attraktive Angebote macht – für mehr Bildung, mehr Freizeit, mehr Zusammenhalt, mehr Gerechtigkeit, mehr Spaß. Und eben auch für mehr kulturelle Teilhabe. „Eine unserer Visionen ist, allen Menschen den Zugang zur Kunst zu öffnen, über die Generationen hinweg, gleich welcher Herkunft, Religion, ob mit oder ohne Behinderung“, sagt Nadja Senekowitsch, die das Mehrgenerationenhaus des „Lino-Club“ leitet – und die Freizeitwoche mitorganisiert hat.

Karton statt Worte

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Wer die Kita-Kinder dabei beobachtet, wie sie sich von Ertan und Christina künstlerisch anleiten lassen, dem schwant, dass diese Vision in diesem Saal längst Realität geworden ist. Wortlos führen die beiden großen Künstler die Pinsel der kleinen Teilnehmer.

Der braune Karton wird zu ihrem Ausdrucksmedium. Denn die geistige Beeinträchtigung lässt ihre Worte nur schwer verstehen. „K-LC-701, K-LC-702, Nak Nak-Atelier, Zuhause Farben mischen, Farben mischen, und viel malen. Blumen, Pflanzen, Gras, Natur. Große Blätter, kleine Blätter, immer weiter malen, neue Farben mischen. Bilder malen, Bilder verschenken“, antwortet Ertan auf die Frage, ob er auch zu Hause künstlerisch aktiv ist. Ertan malt immer und überall.

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Das Ergebnis des einwöchigen Kunst-Freizeitprojekts.

„K-LC-701, K-LC-702, das sind die Kennzeichen der „Lino-Club“-Busse, die Ertan abholen und ins Geschwister-Scholl-Haus bringen, damit er unsere Angebote möglichst eigenständig und unabhängig von den Eltern besuchen kann“, erklärt Vera Hettinger. Sie leitet das Geschwister-Scholl-Haus in Longerich, eine inklusive Kinder- und Jugendeinrichtung des „Lino-Clubs“, in der seit Oktober 2015 auch das „Nak Nak“-Atelier seine Heimat gefunden hat.

Umgekehrte Inklusion

Jeden Mittwochabend öffnet es zwischen 18 und 20 Uhr seine Tore für alle Besucher – orientiert sich aber im Besonderen, wie das gesamte Geschwister-Scholl-Haus, an den spezifischen Bedürfnissen geistig- und mehrfachbehinderter Menschen, die hier die Hausherren sind und nicht beeinträchtige Besucher gerne willkommen heißen. Kurz: Hier wird umgekehrte Inklusion praktiziert.

Weshalb das Kunstlabor „Nak Nak“ für einige von ihnen zu einem sicheren Hafen geworden, an dem sie über die Kunst miteinander kommunizieren. Hier sind sie Künstler, nicht Fremdkörper. Hier werden sie nicht ständig darauf gestupst, etwas nicht zu beherrschen. Hier können sie Unerwartetes schaffen, sich ausprobieren, Talente entdecken und ausleben – ohne Normen und Leistungstabellen.

Kunst muss nicht, Kunst darf. „In unserem Kunstlabor verzichten wir darauf, starre Raster vorzugeben. Die Teilnehmer sind die Experten, wir nur die Assistentinnen. Es geht nicht um bestimmte Ergebnisse, die den gesellschaftlichen Vorstellung von Begabung entsprechen“, sagt Sisko Zielbauer. So entstünden manchmal sehr ungewöhnliche, auf jeden Fall unverfälschte und ungeheuer ehrliche Blicke auf die Welt – malerisch, lyrisch oder fotografisch. Als Malerei, Poesie, Video, Fotografie, Skulptur, Musik – oder auch mal als Kostüm.

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Die Kita-Kinder des "Lino-Clubs" haben Spaß an der Kunst

Keine Frage: Das Kunstlabor im Geschwister-Scholl-Haus ist ihr künstlerischer Kosmos, doch die zehn Stammkünstler von „Nak Nak“ verlassen auch regelmäßig das Atelier, um ihr künstlerisches Know-how an Dritte weiterzugeben. Dann besuchen sie inklusive Kunstseminare an der Uni Siegen, beteiligen sich, wie 2016, mit einer Videoinstallation am Sommerblutfestival, präsentieren am Weltkindertag 2016 eine Fotomontage zum Thema „zu Hause“, die sie gemeinsam mit geflüchteten Jugendlichen geschaffen haben oder zeigen, wie Anfang des Jahres, ihre Werke in der Ausstellung „Die andere Seite ist weich“ (siehe Zitate) an der Uni Köln.

Nak Nak = So ist es gut

Bleibt die Frage nach dem Ursprung des außergewöhnlichen Namens: „Nak Nak“ heißt so viel wie „so ist es gut“ oder „jetzt ist es schön“. Seine Wortschöpferin ist eine Besucherin des Geschwister-Scholl-Hauses, die ihren Lieblingszivildienstleistenden Max Nak Nak nannte – wie alles, was ihr besonders gut gefiel. Nak Nak fände sie auch die wundersame Wandlung der in die Jahre gekommenen Turnhalle, wo kunterbunte Papp-Silhouetten an der Decke schweben, wie Wolken im Wind. Hier bewegt sich was!

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