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Neues Kölner Therapiekonzept„Wir behandeln schwer psychisch kranke Kinder zu Hause“

Lesezeit 5 Minuten
Professor Stephan Bender von der Kinder- und Jugendpsychiatrie der Uniklinik Köln steigt in ein Auto ein, mit dem er schwer psychisch kranke Kinder zuhause aufsucht - und behandelt.

Professor Stephan Bender, Direktor der Kölner Kinder- und Jugendpsychiatrie hat ein Behandlungskonzept entwickelt, mit dem ein multiprofessionelles Team, schwer psychisch kranke junge Menschen zuhause aufsuchen - und behandeln.

Ein Kölner Forscherteam möchte eine Lücke im Versorgungssystem psychisch kranker Kinder schließen.   

Wie es in Zeiten vielfältiger Krisen um etliche Kinderseelen sowie deren medizinische und therapeutische Versorgung bestellt ist, ist besorgniserregend: Rund 23 Prozent der Minderjährigen erkranken pro Jahr an einer Depression, Angst- oder anderen psychischen Störungen. Obwohl damit fast jeder vierte junge Mensch betroffen ist, ist nur jeder 20. in einer Behandlung. Weil die Erkrankung nicht entdeckt wurde oder kein Therapieplatz in Aussicht ist.

Selbst dort, wo schwer psychisch kranke Kinder und Jugendliche einen Therapieplatz erhalten haben, klafft häufig eine große Versorgungslücke zwischen stationärer und anschließender ambulanter Behandlung – von der auch Anton (Name geändert) betroffen ist. Der 14-jährige „Schulvermeider“ konnte aufgrund einer psychischen Störung für längere Zeit nicht zur Schule gehen, weshalb er stationär in der Kinder- und Jugendpsychiatrie an der Uniklinik Köln behandelt wurde.

Schulvermeider mit Drehtüreffekt

Anton besucht während seines Klinikaufenthaltes die „Johann-Christoph-Winters“-Schule der Stadt Köln, wie täglich rund weitere 114 Schülerinnen und Schüler mit einer schweren psychischen Erkrankung. Nach einigen Wochen kann der Junge von der Klinik aus seiner Heimatschule besucht werden. Doch sobald er entfernt ist, wird er rückfällig. Schafft es nicht, morgens das Elternhaus zu verlassen. Anton muss wieder zurück auf die Station.

„Drehtüreffekt“ nennt Professor Stephan Bender das Phänomen, wenn Patienten wie Anton wiederholt trotz stationärer Behandlung in ihrem Zuhause rückfällig werden – „weil die in der Klinik erreichten Erfolge meist nur unzureichend in den Alltag übertragen werden können.“ Oder weil die Versorgungslücke, die zwischen stationärer und ambulanter Behandlung klafft, der Bruch zwischen permanenter Therapie und einer Sitzung pro Woche zu groß sei.

Jenseits des künstlichen Klinikalltags

Genau diese Lücke möchte Bender gemeinsam mit seinem Forschungsteam schließen, weshalb der Direktor der Kinder- und Jugendpsychiatrie an der Uniklinik Köln das – auch von „wir helfen“ geförderte – Pilotprojekt „Base“ gestartet hat, das nun nach ermutigenden ersten Erkenntnissen in einem bundesweiten Folgeprojekt übergeht:

„Home Base“ ist ein innovatives Therapie- und Versorgungskonzept, das auf eine Behandlung junger Eltern Patienten in ihrem eigenen Lebensumfeld abzielt – dem Haus, der Schule und/oder Freizeiteinrichtungen – jenseits des künstlichen Klinikalltags und mit Einbindung der gesamten Familie. Um in Zeiten des Fachkräftemangels eine kostengünstige, effektive, zielgerichtete Versorgung zu bieten. Und um das eigene Umfeld der jungen Menschen wieder zu einer sicheren Basis zu machen.

Wohnzimmer statt Klinikstation

„Wir möchten diejenigen Patienten erreichen, die trotz wiederholter stationärer Aufnahme im Krankenhaus wieder rückfällig oder gar nicht erst aufgenommen werden und in der Jugendhilfe aufgrund ihrer seelischen Erkrankung nicht angemessen gefördert werden können. Sie alle sollen dort behandelt werden, „Wo sie sich wohlfühlen, in ihrem Zuhause“, sagt Bender – und zitiert einen Satz aus einem „Zeit“-Artikel: „Eine der Innovationen der Psychiatrie ist das Wohnzimmer, das größte Patienten, egal wie es aussieht.“

Dr. Jasper Vöckel ist Leiter des Home Base-Standortes Köln.

Einige Probleme und die familiäre Interaktion werden erst zu Hause im gewohnten Umfeld sichtbar und können damit viel zielgerichteter behandelt werden als im klinischen Umfeld, wobei diese Situationen nur theoretisch durchgespielt werden können
D. Jasper Vöckel, Oberarzt an der Kölner Kinder- und Jugendpsychiatrie

„Einige Probleme und die familiäre Interaktion werden erst zu Hause im gewohnten Umfeld sichtbar und können damit viel zielgerichteter behandelt werden als im klinischen Umfeld“, sagt Jasper Vöckel. Aus der kranken Angst Maries davor, dass etwas in ihrem Umfeld beschmutzt sein könnte, desinfizieren ihre Eltern mehrfach am Tag die Böden, wechseln, bevor sie das Haus betritt, ihre Kleidung und duschen sich vor jedem Körperkontakt mit ihrer Tochter. „Sie fördern damit unbewusst das Zwangsverhalten ihres Kindes“, erklärt Vöckel.

Praxisnah statt theorielastig

Antons Eltern wollten ihm helfen, indem sie ihm immer wieder den Wecker gestellt, die Fahrt zur Schule mit dem eigenen Auto organisiert, Ihm auch sonst jede „Last“ abgenommen – und ihn dadurch in seiner Selbstständigkeit eingeschränkt haben. „Diese und andere familiäre Probleme, von denen wir in der Klinik irgendwann gar nichts erfahren würden, erlebten unser multiprofessionelles Home-Base-Team unmittelbar vor Ort – und können direkt intervenieren, anstatt die Situationen in der Klinik theoretisch durchzuspielen“, sagt Vöckel.

Zu dem neunköpfigen Kölner „Home Base“-Team zählen neben Ärzten auch Psychotherapeutinnen, Pädagogen sowie Mitarbeitende des Pflege- und Sozialdienstes, die die komplette Familie und das soziale Umfeld der erkrankten Kinder mit in die Behandlung einbeziehen. Mitarbeitende des Teams begleiten junge Schulvermeider oder Angstpatienten etwa zur und in der Schule, zeigen ihnen, wie sie den Weg dorthin oder in Klassenräume, in denen angstbesetzte Fächer stattfinden, bewältigen können und ihnen damit genau die Sicherheit geben, die sie brauchen, um diese Wege auch künftig angstfrei gehen zu können.

Ein Alltag, den es vorher nie gab

Andere Teammitglieder erarbeiten mit der Familie Regeln für ein gelungenes Miteinander, führen etwa im Fall eines Kindes, das den ganzen Tag in seinem Zimmer sitzt, Familienzeiten ein, organisieren Ausflüge und helfen mit, dass die Familie trotz der Erkrankung des Kindes schöne Zeiten erlebt hat. Zudem begleitet das Team die jungen Patienten bei Aktivitäten außerhalb des familiären Umfelds, in Jugend-Alltagszentren oder Vereinen, hilft ihnen dabei, sich ins soziale Umfeld zu (re-)integrieren und wieder einen Alltag zu erleben, den es vorher für sie vielleicht nie gab.

Von Köln in die Republik

Das von Stephan Bender entwickelte Kölner Home-Base-Projekt wird derzeit in einer bundesweiten Studie unter seiner Leitung untersucht. Daran beteiligt sind zwölf Zentren mit rund 440 jungen Patienten. In einem viermonatigen Behandlungszeitraum finden jeweils Therapien in den eigenen vier Wänden statt, können in ihrer Intensität und Häufigkeit je nach Krankheitsschwere variiert, aber schrittweise reduziert werden und in einer ambulanten Psychotherapie enden. „Home Base“ wird vom Innovationsfonds des Gemeinsamen Bundesausschusses und einem Verbund gesetzlicher Krankenkassen, dem unter anderem die AOK und die „Techniker“ angehören, gefördert. „Nun geht es darum, dass diese innovative Behandlungsform, die auf nicht mehr, sondern eine effektive und zielgerichtete Versorgung setzt, in der Regelversorgung der gesetzlichen Krankenkassen verankert wird“, hofft Bender. Damit psychisch kranke junge Menschen in ihrem natürlichen Lebensumfeld sicher sind – und heilen können.


Daten und Fakten zur Situation psychisch kranker junger Menschen

  1. Etwa 20 Prozent der Minderjährigen in Deutschland entwickeln pro Jahr eine psychische Störung. Bei der Hälfte von ihnen bleibt sie mehr als zwei Jahre bestehen, bei einem Drittel mehr als sechs Jahre.
  2. Zu den häufigsten psychischen Störungen bei Minderjährigen zählen neben emotionalen Problemen (Ängste, Depressionen, Essstörungen) Verhaltensauffälligkeiten (Aggressionen, notorisches Lügen oder Stehlen, ADHS), soziale Probleme (Kontaktschwierigkeiten, Isolation, Auseinandersetzungen mit Gleichaltrigen) und Drogenmissbrauch.
  3. Je schwerer und langwieriger psychische Erkrankungen im Kindes- und Jugendalter werden, desto aufwendiger ist die Behandlung – in einer psychotherapeutischen Praxis kostet sie im Durchschnitt 3.000 Euro. Mehr als die Hälfte der unter 18-Jährigen bleiben infolge psychischer Erkrankungen länger als einen Monat in einer Klinik. Die Behandlung eines depressiv kranken Kindes etwa kostet dort meist mehr als 12.000 Euro.
  4. Wenn Eltern einen niedrigen Schulabschluss oder ein geringes Einkommen haben, erkranken deren Kinder zweimal so oft psychisch wie Kinder aus Familien mit hohen sozioökonomischen Ressourcen. Bei Kindern aus Familien mit mittlerem Bildungsniveau ist das Risiko, an einer Angststörung oder einer Depression zu erkranken, 30 Prozent höher als bei Kindern aus Familien mit hohem Bildungshintergrund.