Arbeitsminister Hubertus Heil„Die Menschen haben Bock auf anständige Bezahlung“

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Hubertus Heil (SPD) mit reifer Kakaoschote auf einer Kakaoplantage an der Elfenbeinküste.

Hubertus Heil (SPD) mit reifer Kakaoschote auf einer Kakaoplantage an der Elfenbeinküste.

Ein Interview über die Zukunft der Rentenbeiträge, das Gesetz zur Arbeitszeiterfassung und Anwerbe-Kampagnen im Ausland für Fachkräfte.  

Hubertus Heil (50) hat ein gewisses Alleinstellungsmerkmal in der Ampel-Koalition: Der SPD-Politiker ist der einzige Minister, der sein Amt auch schon in der Großen Koalition innehatte. Der entspannt wirkende Bundesarbeitsminister empfängt in seinem Ministerium und erzählt zur Begrüßung erst einmal einen Witz aus seinem reichhaltigen Repertoire. Er darf hier aber leider nicht zitiert werden.

Herr Minister, in der Ampel kriselt es an allen Ecken und Enden – die selbsternannte Fortschrittskoalition blockiert sich gegenseitig. Sollte der Kanzler bei der bevorstehenden Kabinettsklausur in Meseberg ein Machtwort sprechen?

Zunächst teile ich Ihre Einschätzung ausdrücklich nicht. Diese Koalition hat seit ihrem Bestehen sehr viel zusammen erreicht. Wir haben schnelle und klare Antworten auf den brutalen Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine in politischer, militärischer aber auch in humanitärer Hinsicht gegeben. Wir haben unser Land wirtschaftlich gut durch die Krise gebracht und die Gesellschaft sozial zusammengehalten. Wir haben eine Gasmangellage verhindert und gerade sind die Energiepreisbremsen in Kraft getreten. Und trotz widrigster Umstände haben wir gesellschaftspolitische Fortschritte erreicht, in meinem Bereich den Mindestlohn und das Bürgergeld.

Wir bleiben dabei: Geschlossenheit sieht anders aus.

Richtig ist: Wir als Koalition dürfen nicht nachlassen, denn das Land benötigt eine umfassende wirtschaftliche, soziale und ökologische Modernisierung. Und wenn es strittige Fragen gibt, müssen diese in Verhandlungen geklärt werden. Die Union wusste am Ende der großen Koalition nur noch, was sie nicht wollte. Das wird uns miteinander nicht passieren. Mit der Ampel geht mehr. Und das ist gut für Deutschland.

Hauptstreitpunkt ist derzeit die Haushaltsplanung für 2024. Befürworten Sie mehr Geld für die Bundeswehr, auch wenn dann möglicherweise im Sozialbereich gespart werden muss?

Man darf die äußere Sicherheit nicht gegen den sozialen Zusammenhalt im Inneren ausspielen. Damit würden wir Putin zum Erfolg verhelfen. Er hat versucht, mit dem Einsatz von Gas als Waffe unsere Gesellschaft wirtschaftlich und sozial zu spalten, damit wir keine Solidarität mit der Ukraine üben. Das ist ihm bisher nicht gelungen und wird ihm auch weiter nicht gelingen. Deutschland braucht eine starke Bundeswehr und einen starken Sozialstaat.

Bei der geplanten Grundsicherung für Kinder steht Finanzminister Lindner auf der Bremse. Wäre das so ein Sparen am falschen Ende?

Die Kindergrundsicherung ist ein wichtiges gemeinsames Projekt. Im Vorgriff darauf haben wir im vergangenen Jahr bereits den Kindersofortzuschlag eingeführt, das Kindergeld erhöht und mit dem Bürgergeld dafür gesorgt, dass armutsgefährdete Kinder mehr Hilfe und Unterstützung bekommen. Jetzt geht es vor allem darum, dass die zahlreichen Familienleistungen endlich besser bei den bedürftigen Kindern ankommen. Dazu muss das System digitaler und einfacher werden. Ohne komplizierte Anträge kommt das Geld bei den Richtigen an. Das zeigt, es geht bei Sozialleistungen nicht immer nur um mehr Geld, sondern auch darum, einfache und bürgerfreundliche Zugänge zu schaffen. Daran arbeitet das federführende Familienministerium, mit fachlicher Unterstützung von Arbeits- und Finanzministerium – so sind interessanterweise alle Ampelparteien vertreten.

Das spricht also für langwierige Verhandlungen.

Aber nicht deshalb, weil alle mit am Tisch sitzen, sondern weil es eine große und komplizierte Reform ist. Die Beteiligten eint der Wille, dass die Kindergrundsicherung noch in dieser Wahlperiode kommt. Da bin ich aber auch sehr zuversichtlich.

Wann kommt das vereinbarte zweite Rentenpaket?

Ich will die gesetzliche Rente langfristig stabilisieren, damit die Menschen sich auch in Zukunft auf eine gute Altersvorsorge verlassen können. Beide Elemente sind grundsätzlich fertig – mein Teil mit der Sicherung des Rentenniveaus über 2025 hinaus und das von Finanzminister Lindner verantwortete Generationenkapital zur Abfederung der Belastungen in den 2030er Jahren, wenn die Babyboomer in Rente gehen. Nun besprechen wir die Details des Pakets. In der ersten Jahreshälfte soll die Reform im Kabinett beschlossen werden.

Sie wollen zwar das Rentenniveau bei 48 Prozent festschreiben, aber anders als bisher soll es keine Haltelinie mehr beim Beitragssatz geben. Müssen sich die Versicherten angesichts der demografischen Entwicklung auf explodierende Beiträge einstellen?

Nein. Denn es gibt eine wichtige Stellschraube für die Stabilität der Rentenversicherung, und das ist die Entwicklung am Arbeitsmarkt. Je mehr Menschen in gut bezahlter Arbeit sind und Sozialbeiträge zahlen, desto stabiler ist die Rente. Wir haben heute fünf Millionen sozialversicherungspflichtig Beschäftigte mehr als vor zehn Jahren prognostiziert. Dadurch halten wir den Beitragssatz schon jahrelang stabil und werden ihn auch länger auf dem Niveau halten als erwartet. Erst in der zweiten Hälfte der 2020er Jahre wird der Satz leicht ansteigen. Mein Ziel ist, auch danach einen zu starken Anstieg zu verhindern. Das erreichen wir, wenn wir unsere Hausaufgaben beim Thema Fachkräftesicherung machen und zudem durch das Generationenkapital eine Dämpfung der Beiträge erreichen.

Bleiben wir zunächst bei letzterem: Finanzminister Lindner will jährlich zehn Milliarden Euro an Schulden aufnehmen, diese am Kapitalmarkt anlegen und damit ab Mitte der 30er Jahre die Rentenversicherung entlasten. Kaum ein Ökonom hält etwas von dem Konzept. Sie etwa?

Es geht nicht um irgendwelche Zockereien auf den Finanzmärkten, sondern um langfristig angelegtes Geld, um die gesetzliche Rente zu stärken. Vereinbart ist im Koalitionsvertrag ein erster Schritt von 10 Milliarden Euro. Wenn der Finanzminister Spielraum für weitere Summen sieht, schaue ich mir das gerne an.

Finanzminister Lindner will auch Bundesbeteiligungen einbringen und die zehn Milliarden Euro dauerhaft Jahr für Jahr anlegen. Gehen Sie mit?

Im Koalitionsvertrag stehen, wie bereits erwähnt, zunächst einmalig zehn Milliarden Euro. Aber klar ist auch: Je mehr Geld der Finanzminister vernünftig und langfristig im Generationenkapital anlegt, desto höher sind später die Erträge, um die Beiträge zu dämpfen. Dagegen kann ich als der für die Rente zuständige Minister nichts haben.

Zurück zum Fachkräftemangel, der bereits jetzt ein Problem für die Wirtschaft ist: Kommen harte Zeiten auf Deutschland zu?

Fachkräftesicherung ist Wohlstandssicherung für unser Land. Hier müssen Politik, Wirtschaft und Gewerkschaften gemeinsam ran. Wenn wir nicht alle Register ziehen, fehlen uns bis 2035 bis zu sieben Millionen Arbeits- und Fachkräfte. Wir müssen also alle Potenziale im Inland heben. Das schließt die Frauenerwerbsbeteiligung mit ein: Wenn das Arbeitszeitvolumen von Frauen, die oft ungewollt Teilzeit arbeiten, um 10 Prozent höher wäre, wären das pro Jahr 400.000 Arbeitskräfte mehr. Es geht aber auch um Inklusion von Menschen mit Behinderung, um die Beschäftigung Älterer und die Weiterbildung.

Ihr Weiterbildungsgesetz hängt allerdings gerade im Bundesfinanzministerium fest.

Es gibt bei dem Gesetz noch offene Diskussionspunkte, die wir aber klären werden. Zumal die vorgesehenen Instrumente der Fachkräftesicherung dienen: Wir wollen unter anderem mit der Ausbildungsgarantie mehr junge Menschen in Ausbildung bringen und eine Bildungszeit einführen. Ich bin zuversichtlich, dass wir uns einigen werden.

Braucht es auch „mehr Bock auf Arbeit“, wie es der Arbeitgeber-Verband jüngst formuliert hat?

Ich kann mit diesem Spruch überhaupt nichts anfangen. Die fleißigen Menschen in diesem Land, die beispielsweise als Reinigungskräfte arbeiten oder in der Pflege schuften, brauchen von niemandem respektlose Belehrungen über ihre Arbeitsmoral. Die allermeisten Arbeitskräfte arbeiten aus Überzeugung: Für sie ist Arbeit mehr als Broterwerb, sie ist Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Wer das nicht verstanden hat, der muss mit ungewollt arbeitslosen Menschen sprechen.

Dahinter steckt aber ja die durchaus verbreitete Ansicht, dass die jüngeren Generationen nicht mehr so Lust haben, zu schuften.

Zu unterstellen, die Leute wollten alle nicht arbeiten oder seien zu faul, das ist ungerecht gegenüber der fleißigen Arbeitnehmerschaft. Dass wir Arbeit und Leistung brauchen und die anerkennen müssen, ist klar. Um in dem Sprachbild zu bleiben: Die Menschen haben Bock auf anständige Arbeitsbedingungen unter einem Tarifvertrag und auf anständige Bezahlung. Es ist kein Zufall, dass es besonders in Bereichen mit schlechter Bezahlung und schlechten Arbeitsbedingungen schwer ist, Arbeitskräfte zu finden.

Experten sagen, Deutschland brauche jährlich 400.000 Zuwanderer, um dem Fachkräftemangel entgegenzutreten. Wie soll das gelingen?

Wir werden die rechtlichen Hürden zur Einwanderung mit dem Fachkräfteeinwanderungsgesetz einreißen. Dazu gehören die Erleichterung von Visaverfahren und die Anerkennung von Berufsqualifizierungen nach Ankunft in Deutschland. Wenn wir das alles erreicht haben, brauchen wir eine neue Anwerbekampagne.

Wir müssen eine neue Anwerbekampagne mit der Wirtschaft starten
Hubertus Heil

Die gab es in den letzten Jahren schon öfter.

Ja, es gibt bereits Anwerbebemühungen der Privatwirtschaft und der Bundesregierung, die reichen aber noch lange nicht aus. Wir müssen eine neue Anwerbekampagne mit der Wirtschaft starten und gezielt in die Drittländer gehen, um dort Fachkräfte zu identifizieren und sie für Deutschland zu gewinnen. Das Fachkräfteeinwanderungsgesetz läuft sonst ins Leere.

Zur Berufsanerkennung: Die ist besonders bürokratisch, weil sie von Bundesland zu Bundesland unterschiedlich ist. Wie wollen Sie den Bürokratiewahnsinn beenden?

Es ist sogar noch schlimmer! Es gibt in Deutschland mehr als 1000 unterschiedliche Dienststellen, die für die verschiedenen Berufsanerkennungen zuständig sind. Die Kompetenzen sind viel zu sehr verstreut. Das ganze System muss erneuert werden, aber das wird dauern. Weil wir nicht so lange warten können, legen wir hier einen Bypass. Mit dem neuen Gesetz soll die Anerkennung der Berufsqualifikationen der Fach- und Arbeitskräfte erst nach Antritt der Arbeitsstelle in Deutschland erledigt werden. Es reichen ein Arbeitsvertrag und eine anerkannte Qualifizierung aus dem Heimatland.

Das Bundesarbeitsgericht hat 2022 geurteilt, dass Arbeitszeiterfassung Pflicht ist. Wann kommt der angekündigte Gesetzesentwurf und bedeutet dieser das Ende von Vertrauensarbeitszeitmodellen?

Kurz gesagt: Zeitnah − und nein.

Bitte etwas konkreter.

Es gibt viele Bereiche, in denen es Arbeitszeiterfassung bereits gibt. Knapp 50 Prozent der Beschäftigten sagen, sie hätten entsprechende Systeme des Arbeitgebers, weitere 32 Prozent zeichnen ihre Arbeitszeiten im Auftrag ihres Unternehmens selber auf. Der Rest weiß es nicht oder hat sie noch nicht. Wir werden die Anpassung des Arbeitszeitgesetzes so gestalten, dass sie für die Betriebe nicht zu unnötiger Bürokratie führt und Flexibilität für die Beschäftigten weiter ermöglicht. Deswegen wird Vertrauensarbeitszeit weiter möglich sein – ohne Stechuhr.

Wie zum Beispiel?

Eine Option sind digitale Aufzeichnungsmöglichkeiten. Auch Vereinbarungen zwischen Arbeitgebern und Gewerkschaften zur Vertrauensarbeitszeit, die es heute schon gibt, sind eine Variante. Das Gesetz wird den Lebenswirklichkeiten entsprechen. Inwiefern werden diese Vereinbarungen weiter möglich sein? Die Arbeitsjuristen wissen, dass der Teufel im Detail steckt. Das ist auch den Sozialpartnern klar. Ich kann aber versichern, dass wir unbürokratische Lösungen möglich machen werden.

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