Interview zur EnergiepolitikCovestro-Chef: „Wir brauchen die Atomkraft“

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Covestro-Chef Markus Steilemann

Covestro-Chef Markus Steilemann fordert eine Verstaatlichung von Teilen der Netzgesellschaften. (Archivbild)

Markus Steilemann spricht über Defizite des Strommarktes, warum er die Atomkraft zurückwill und ob er an der Personalschraube drehen wird.

Gerade werden düstere Wirtschaftswachstumsprognosen gemacht. Wie ist die Prognose für das Jahr 2024, was Covestro angeht?

Markus Steilemann: Die derzeitigen Herausforderungen lösen sich auch im Jahr 2024 nicht in Luft auf. Wir gehen davon aus, dass eine konjunkturelle Belebung frühestens ab Mitte des Jahres eintreten wird. Unsere eigene Prognose für das Jahr 2024 veröffentlichen wir Ende Februar. Was wir aber in jedem Fall tun, ist uns auf die Dinge zu konzentrieren, die wir selbst in der Hand haben. Wir rücken noch näher an unsere Kunden, nutzen vermehrt Künstliche Intelligenz, optimieren unsere Anlagenverfügbarkeit und natürlich auch weiter unsere Kostenstruktur.

Was steht aktuell für das laufende Jahr an?

Wir werden im Jahr 2024 einiges anstoßen. Beispielsweise wollen wir unsere Anlagenverfügbarkeit wieder deutlich erhöhen. Im letzten Jahr konnten wir stellenweise aufgrund technischer Ausfälle nur eingeschränkt liefern. Das wollen wir dieses Jahr besser machen.

Werden Sie an der Personalschraube drehen?

Wir werden unsere Anstrengungen durch ein Kostenprogramm begleiten und absichern. Dieses Kostenprogramm haben wir schon lange in Vorbereitung und es gibt jetzt weitere Blöcke, die wir in diesem Kontext umsetzen wollen. Dabei geht es vor allem um Sachkosteneinsparungen, aber es wird sicherlich auch an der einen oder anderen Stelle im Bereich des Personalkostenblocks Einsparungen geben.

Heißt Personalkostensenkung, auf natürliche Fluktuation zu setzen oder heißt das auch Stellenabbau? Oder kann man das ausschließen?

Wir haben keinen konkreten Stellenabbau in Planung. Alles, was wir derzeit machen, ist bereits durch bestehende, auch mitbestimmte Programme abgesichert. Die Stellen, die durch bestehende Programme abgebaut werden, werden überwiegend über Fluktuation, beziehungsweise speziell hier in Deutschland natürlich über die mitbestimmten sozialverträglichen Abbauprogramme, realisiert.

Über wie viele Menschen reden wir da?

Das ist schwer abzuschätzen, da wir wie gesagt nicht das eine große Ziel gesetzt haben. Wir gehen gezielt in Einzelbereiche und schauen auf das jeweilige Optimierungspotenzial, denn wir wollen mit unseren Gesamtkosten deutlich runter. Und das beinhaltet auf der einen Seite Sachkosten und auf der anderen Seite natürlich auch Personalkosten. Es geht in Summe aber um die Gesamtkostensenkung.

Zu welchem Zeitpunkt kann man mit Personalabbau rechnen?

Wir hatten weltweit im Jahr 2022 rund 18.000 Mitarbeiter und liegen für das Jahr 2023 nun bei rund 17.500. Das heißt, wir haben schon 500 Stellen abgebaut. Wir haben Stück für Stück kleinere und mittelgroße Programme im Unternehmen umgesetzt und Stellen nur selektiv neu besetzt.

Wie beurteilen sie die Strompreissenkung, also die Steuersenkung auf europäisches Mindestniveau?

Es fehlt ein Gesamtkonzept für einen wettbewerbsfähigen Strompreis. Solange bleibt es halbherzig. Zum einen kommt ja ein wettbewerbsfähiger Strompreis nicht zustande, indem man das Angebot verknappt, sondern indem man ein Überangebot schafft und damit Wettbewerbsdruck auf die Stromerzeugerpreise ausübt. Das aber ist nicht erfolgt. Das Grundproblem ist, dass wir nicht ausreichend Strom haben, um den Strompreis tatsächlich deutlich zu senken. Hinzu kommen die ganzen strukturellen Herausforderungen. Zum einen benötigt man für grundsätzlich grundlastfähige Energieformen, sei es Atom, Gas, Kohle oder Öl, im Prinzip keine Reservekapazitäten, weil diese Energieformen im Grunde ihre eigene Reservekapazität darstellen. Bei der Umstellung in Richtung grüne Energie braucht man diese aber sehr wohl. Allein bis 2030 müssten 50 neue Gaskraftwerke entstehen. Im jetzigen Tempo ist das völlig realitätsfern. Diese Backup-Kraftwerke, die bei Dunkel- oder Windflaute tatsächlich einspringen können, um eine stabile Stromversorgung sicherzustellen, fehlen.

Sehen Sie andere strukturelle Defizite bei der deutschen Energiepolitik?

Nehmen wir zwei einfache Beispiele: Erstens, der Netzausbau hinkt hinterher. Auch das haben meine Kollegen von der Energieindustrie sehr deutlich gemacht. Denn Windenergie kommt eben häufig aus dem Norden, nicht aus dem Süden, wo sie gebraucht wird. Zweitens: Der Netzausbau ist zudem relativ teuer, da wir über Erdkabel und nicht über Stromtrassen sprechen, die in der Freiluft installiert sind. Erdkabel kosten aber je nach Bodenbeschaffenheit 3 bis 8 Mal so viel wie Freileitungen. So entstehen schnell Mehrkosten im zweistelligen Milliarden Euro Bereich.

Was bringt die gesenkte Stromsteuer?

Das dritte Thema sind die zusätzlichen Gebühren und Entgelte. Hier hat sich die Bundesregierung entschlossen, wie Sie sagen, die Stromsteuer auf 50 Cent pro Megawattstunde zu senken. Das ist das europäische Mindestmaß. Das Dilemma dabei ist nur, dass aufgrund der strukturell steigenden Strompreise so höchstens eine Verlangsamung des Strompreisanstiegs bewirkt wird. Und keine Entlastung. Was wir jetzt haben, ist eine ganz interessante Situation. Wir haben nämlich einen deutlich geringeren Stromverbrauch als geplant und dadurch in den Wintermonaten tatsächlich auch ein gutes Stromangebot mit vergleichsweise vernünftigen Preisen. Das liegt aber nur daran, dass 20 Prozent der Industriekapazität in Deutschland nicht mehr produziert. Es sind also keine Effizienz- und Effektivitätsgewinne, sondern es wird schlicht und einfach weniger in Deutschland produziert. Und deshalb reicht die zurzeit erzeugte Strommenge tatsächlich aus. Das ist das Dilemma in der öffentlichen Wahrnehmung: Wir haben zwar einerseits jetzt wieder Strompreise, die ungefähr nur noch doppelt so hoch wie vor 2020 sind. Auf der anderen Seite ist die Hauptursache dafür aber ein Nachfrageschwund und eben keine gute Angebots- oder Strukturpolitik.

Wenn man es jetzt positiv dreht, was wäre die positive Forderung? Was könnte die Regierung, ist jetzt egal, ob Bund oder Land, tun, um da zu helfen?

Generell müssen wir hin zu einer Strukturreform des Strommarktes. Wir müssen Teile der Netzgesellschaften verstaatlichen oder zusammenführen, damit diese das riesige, dringend notwendige Investitionsvolumen tatsächlich auch abgesichert stemmen können. Das heißt, der Staat muss wieder mehr hoheitliche Aufgaben in diesen sehr wichtigen Infrastrukturprojekten übernehmen, damit wir schnell zu einem Netzausbau kommen. Zudem muss das Stromangebot so lange wie möglich, so hoch wie möglich sein. Und jetzt sage ich etwas Unpopuläres: Wir brauchen die Atomkraft. Und ich weiß, meine Kollegen von der Energiewirtschaft, je nachdem, welche Strategie sie fahren, sagen ja oder nein. Ich kann nur fragen: wie kann man politisch eigentlich so handwerklich schlecht arbeiten, dass man erst das Angebot verknappt und sich dann wundert, dass die Preise steigen. Der wichtigste Faktor aus meiner Sicht wäre also ein viel größeres Angebot an Strom, um die Preise zu senken.

Die Versorger scheuen vor Atom zurück, weil sie sagen, die Kosten seien so hoch.

Interessant ist ja, dass fast alle europäischen Länder, die eine energieintensive Industrie und eine sichere Stromversorgung haben, Atomkraft weiter betreiben oder sogar Pläne haben, neue Atomkraftwerke zu bauen. Also ich glaube, wir haben hier eine ideologisch verhärtete Diskussion in Deutschland, die der Sache nicht gut tut. Jetzt kann man sagen, der Atomausstieg ist längst beschlossen und damals noch unter Schröder und später von Merkel bestätigt worden.

Ja, nach Fukushima.

Genau. Aber die Entscheidung, an diesem Beschluss festzuhalten, hat die jetzige Regierung getroffen. Man soll Wasser, das unter der Brücke durch ist, nicht hinterherweinen, aber ich sage ganz klar: Wenn der politische Wille da wäre, würden mindestens drei, vielleicht sogar sechs Kraftwerke wieder ans Netz kommen. Ich spreche dabei von existierenden Kraftwerken, nicht von neuen. Neu bauen ist eine ganz andere politische Debatte. Aber die existierenden Kraftwerke so lange weiter laufen zu lassen, bis der Ausbau der Erneuerbaren tatsächlich so weit fortgeschritten ist, dass es im Markt den gewünschten Kostensenkungseffekt hat.

Wie laufen die Gespräche mit dem arabischen Investor Adnoc, der bei Covestro einsteigen möchte?

Wir befinden uns in ergebnisoffenen Gesprächen. Dabei handeln meine Vorstandskollegen und ich im besten Interesse A des Unternehmens und B der Mitarbeiter, Aktionäre und weiterer Interessensgruppen. Das mag trocken klingen, aber so ist der Stand der Dinge.

Die Inflation ist wieder fast auf einem normalen Niveau. Die Zinsen sinken. Sind das jetzt für Sie positive Signale oder regiert eher die Skepsis?

Es sind natürlich positive Signale, weil es die eben beschriebenen Effekte, Kaufzurückhaltung etc. deutlich abmildert. Auf der anderen Seite ist die Inflation der vergangenen zwei Jahre ja noch da. Ich glaube aber, dass wir die Talsohle erreicht haben, die Lagerbestände abgebaut sind und wir jetzt echte Bedarfe sehen. Dann tritt ab dem dritten Quartal möglicherweise wieder eine Belebung ein. Wo die Krise deutlich länger dauern wird, ist der Immobiliensektor. Aber Covestro hat eine Menge Selbsthilfe sowohl umgesetzt als auch in Planung. Und deshalb gehe ich auch wie immer optimistisch ins neue Jahr.


Zur Person: Markus Steilemann wurde 1970 in Geilenkirchen geboren. Der 53-Jährige begann 1999 seine berufliche Karriere beim Bayer-Konzern. 2015 wurde er Vorstandsmitglied beim Chemiekonzern Covestro und war dort für den Bereich Innovation verantwortlich. Als Chief Commercial Officer übernahm er 2017 die Verantwortung für die Bereiche Innovation, Marketing und Vertrieb und ein Jahr später wurde er Vorstandsvorsitzender des Covestro-Konzerns. Außerdem ist im Präsidium von Cefic, dem europäischen Chemie-Dachverbands und im Vorstand des Weltverband der Chemieverbände, ICCA. Von 2020 bis 2022 war er Präsident von Plastics Europe, dem Verband der Kunststoffhersteller in Europa. Seit 2022 ist Steilemann Aufsichtsratsmitglied von Fuchs Petrolub, einem weltweiten Anbieter von Schmierstofflösungen, sowie Präsident des deutschen Branchenverbands der Chemischen Industrie, VCI.

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