Meine RegionMeine Artikel
AboAbonnieren

Interview

Wo lässt sich sparen?
„Jeder dritte Euro unserer Sozialausgaben fließt in die Renten“

7 min
Geöffnetes Portemonnaie

Die Regierung will sparen. Aber woran? Am Bürgergeld? An den Renten? Oder sollten Vermögende mehr Kosten schultern?

Bundeskanzler Merz sagt, Deutschland lebe über seinen Verhältnissen. Wir haben mit dem Kölner Soziologie-Professor Sebastian Wen über soziale Gerechtigkeit gesprochen.

Herr Wen, Politiker sprechen derzeit viel über den Sozialstaat. Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) sagt gar, wir lebten über unsere Verhältnisse. Vor allem das Bürgergeld ist da auf die Reformliste geraten. Geht die Diskussio in die richtige Richtung?

Sebastian Wen: Das Bürgergeld in den Fokus zu nehmen, ist aus vielen Gründen komplett unsinnig. Zunächst macht es nur fünf Prozent der Sozialabgaben überhaupt aus. Darüber hinaus handelt es sich bei einem Drittel der Bezieher um Kinder, bei einem weiteren Drittel um Menschen, die nicht arbeitsfähig sind, weil sie sich beispielsweise um diese Kinder kümmern. Bleibt noch ein Drittel. Aus dieser Gruppe zehn Prozent raussparen zu wollen, wäre zumindest sehr sportlich.

Fakt ist aber ja tatsächlich, dass die Bürgergeldausgaben im vergangenen Jahr um vier Milliarden auf fast 47 Milliarden Euro gestiegen sind. Woran liegt das denn?

Die zuletzt gestiegenen Ausgaben für das Bürgergeld sind vor allem auf zwei Faktoren zurückzuführen: Erstens ist da die Erhöhung der Regelsätze durch die gestiegene Inflation und zweitens die Zahl der Geflüchteten aus der Ukraine, die sich nochmal erhöht hat. Beide Faktoren sind am Ende zu großen Teilen auf den russischen Angriffskrieg in der Ukraine zurückzuführen. Im Grunde kann man sagen, ein Großteil der Probleme, die wir gerade diskutieren, gründet sich auf der Politik Wladimir Putins, nicht auf einem überbordenden Sozialstaat. Die Masse der Geflüchteten, die seit 2015 zu uns kamen, speist sich aus der Situation in Syrien und der Ukraine. Beide Krisen haben ihren Ursprung in Russland.

All das, was Sie sagen, weiß Herr Merz doch auch. Warum verengt er die Spardebatte trotzdem auf die Ärmsten?

Nun, wahrscheinlich einfach deshalb, weil seine Wählerinnen und Wähler es ihm übelnehmen würden, wenn er eine andere Gruppe in den Blick nähme. Die Rentnerinnen und Rentner zum Beispiel. Hier läge die deutlich lohnendere Sparsparte verborgen. Schließlich fließt jeder dritte Euro unseres Sozialbudgets in die Renten.

Die Frühverrentung wird immer noch gefördert. Das geht in die völlig falsche Richtung
Sebastian Wen, Professor für Soziologie
Sebastian Wen

Sebastian Wen ist Professor an der katholischen Hochschule NRW. Er sagt: „Die Babyboomer sind eine riesige Wählerklientel, mit der man es sich nicht verscherzen will.“

Tendenz steigend.

Der demografische Wandel ist der Hauptgrund dafür, dass sich unsere Sozialausgaben erhöhen. Die geburtenstarken Babyboomer gehen gerade in Rente. Auf diese Weise verlieren wir in den kommenden zehn Jahren sieben Millionen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Das verursacht nicht nur hohe Kosten bei der Rente, sondern verschärft auch den Fachkräftemangel nochmal enorm.

Ältere Menschen müssten also länger arbeiten. Dann wäre ja immerhin der Vorschlag zur Aktivrente eine gute Idee der Regierung.

In der Tat. Wobei wir natürlich sehen müssen, dass nicht alle Menschen länger arbeiten können. Nehmen Sie das berühmte Beispiel vom Dachdecker, der ist körperlich irgendwann nicht mehr wirklich in der Lage, das zu schaffen. Gleichzeitig wird aber auch die Frühverrentung immer noch gefördert. Das geht in eine völlig falsche Richtung. Und widerspricht auch dem Ansatz der Aktivrente. Aber natürlich profitieren auch von der Frühverrentung derzeit vor allem die Babyboomer. Und das ist natürlich eine riesige Wählerklientel, mit der man es sich nicht verscherzen will.

Arbeitsmigration wäre ja auch eine Möglichkeit, den drohenden Fachkräftemangel einerseits und das Minus in der Rentenkasse andererseits zu beheben.

Und diesen Weg ist Deutschland ja lange Zeit schon sehr erfolgreich gegangen. Schon seit den 1970er Jahren würde unsere Bevölkerung ohne Zuwanderung schrumpfen. Migrantinnen und Migranten haben seither geholfen, unsere Wirtschaft im Wachstum zu halten. Und plötzlich sollen aber die Migranten das Problem sein. Das scheint ja auch bei der Bürgergelddebatte immer wieder durch. Das Narrativ ist mittlerweile: Da kommen Leute und leben auf unsere Kosten. Ich will gar nicht sagen, dass es da nicht auch Missbrauch gibt. Aber mich irritiert trotzdem sehr, dass man nicht viel mehr die Frage der Integration in den Blick nimmt und damit zu einer sehr positiven Erzählung kommen würde: Ja, Menschen wollen oder müssen zu uns kommen. Aber wenn wir sie integrieren, sind sie eine echte Zukunftsperspektive für unser Land. Wenn wir uns die Zahlen derjenigen ansehen, die aus Syrien zu uns kamen, dann sollte uns das hoffnungsvoll stimmen. Die Quote der Erwerbstätigkeit reicht da zehn Jahre nach der Flüchtlingswelle an die der restlichen Bevölkerung gut heran.

Ein wirkliches Gerechtigkeitsproblem haben wir bei der Verteilung der Vermögen.
Sebastian Wen, Professor für Soziologie

Allerdings nur bei den Männern.

Der Anteil der erwerbstätigen Frauen – auch der Vollzeit erwerbstätigen Frauen – muss generell erhöht werden. Da ist noch viel Luft nach oben. Durch Unterhaltskürzungen von Alleinerziehenden hat man in den vergangenen Jahren auch versucht, gerade Mütter vermehrt zum Arbeiten zu ermuntern. Grundsätzlich eine gute Idee, schließlich bringt uns das auch Fachkräfte und Rentenbeiträge. Oft fehlt da aber eine gute Infrastruktur bei der Kinderbetreuung. Viele Mütter – insbesondere Alleinerziehende – können gar nicht voll arbeiten, weil die Kita-Öffnungszeiten nicht zu den Jobzeiten passen. Am Ende müssen diese Frauen also beim Amt aufstocken. Und belasten so die Sozialsysteme sogar mehr als früher, als die Väter noch mehr zahlen mussten.

Wenn wir den Blick weiten und vom Bürgergeld und den Rentnern weggehen: Wie könnte man die leeren Kassen denn noch füllen?

Mehr Gerechtigkeit bei der Besteuerung von Erwerbsarbeit wäre ein Beispiel. Aber das halte ich auch nicht für den passendsten Hebel – auch aus sozialer Sicht nicht. Denn die Schere der Einkommen hat sich gar nicht so wahnsinnig vergrößert in den vergangenen Jahren. Und wenn, dann liegt das oft daran, dass gut verdienende Menschen ihrerseits wiederum gutverdienende Menschen heiraten – was den Abstand der Haushaltseinkommen etwas vergrößert. Ein wirkliches Gerechtigkeitsproblem haben wir aber bei der Verteilung der Vermögen. Zehn Prozent der Bevölkerung besitzen mehr als die Hälfte des Vermögens. Die ärmsten 20 Prozent besitzen fast nichts. Durch Erbschaften wird sich die Ungleichheit in Zukunft immer weiter vergrößern. Und zwar ganz ohne dass jemand dafür arbeiten würden. Wenn wir da nicht aufpassen, ist die Leistungsgesellschaft in ernsthafter Gefahr. Warum soll man sich auch anstrengen, wenn man zwar vielleicht das Gehalt etwas verbessern, aber eben kaum das Vermögen vermehren kann?

Wäre eine höhere Erbschaftsteuer eine Lösung?

Auf jeden Fall, außerdem sollten wir sicherlich eine Vermögensteuer in den Blick nehmen. Und eine höhere Kapitalertragsteuer. Die liegt derzeit pauschal bei 25 Prozent. Warum eigentlich? Weil eine Erhöhung in Deutschland den reicheren und damit einflussreicheren Teil der Bevölkerung treffen würde. Da traut man sich nicht ran. Dabei bräuchte man das gewonnene Geld dringend, um es in die Bildung zu stecken. Denn auch hier herrscht große Ungerechtigkeit. Kinder von akademischen Eltern studieren weit häufiger als Arbeiterkinder. Das vergrößert nicht nur die finanzielle Ungleichheit, sondern hat auch Konsequenzen für die soziale Teilhabe. Zusätzlich ist es auch ökonomisch nicht sinnvoll, schließlich sind Kinder akademischer Eltern nicht automatisch intelligenter.

Der Kuchen ist kleiner geworden. Umso wichtiger ist es, ihn gerecht zu verteilen
Sebastian Wen, Professor für Soziologie

Könnte man böse sagen: Die Gesellschaft – und vor allem die Wirtschaft – hat gar ein Interesse daran, den Niedriglohnsektor und damit auch die relative Armut einer Bevölkerungsgruppe zu erhalten?

Soweit würde ich nicht gehen. Wohl aber ist man in den wohlhabenderen Bevölkerungsgruppen zumindest derzeit offensichtlich noch nicht bereit genug, die eigenen Privilegien zu Gunsten der Ärmeren ein Stück weit zurückzunehmen. Wir müssen hier innerhalb unserer Gesellschaft meines Erachtens ganzheitlicher denken und solidarischer werden. Denn im Grunde sind wir trotz schwächelnder Wirtschaft weiterhin ein reiches Land.

Im Kommunalwahlkampf in NRW spielte Ungerechtigkeit keine große Rolle. Eher das Thema Sicherheit. Warum ist das so? Wenn nur zehn Prozent zu den wirklich Reichen gehören, müssten ja 90 Prozent ein Interesse an einer größeren Umverteilung haben. Man könnte meinen, die Demokratie regelt das.

Wir glauben wahrscheinlich alle noch daran, dass die Reichen am meisten zum Wirtschaftswachstum beitragen und Wachstum am Ende allen nützt. Den Reichsten mehr als den Ärmeren, aber jeder bekommt was ab. Das hat auch viele Jahrzehnte funktioniert. Und in gewisser Weise ist das ja auch das Versprechen der AfD, dass es wieder so wird wie früher, wenn nur die Globalisierung und die Migration zurückgedrängt werden. Und die anderen Parteien setzen auf dasselbe Pferd, im Glauben, damit der AfD wieder Wähler abjagen zu können. Diese prospektive Zeit des Wachstums ist aber seit Corona und dem Beginn des Angriffskriegs auf die Ukraine vorbei. Und die alten Zeiten kommen auch nicht einfach so wieder zurück. Der Kuchen ist kleiner geworden. Umso wichtiger ist es, ihn gerecht zu verteilen.

Trotzdem wählen die Leute die AfD, obwohl die ja eher eine neoliberale Politik verfolgt, die weniger Gutverdienenden gar nicht nützen würde.

Das ist ein Phänomen, das wir auch in den USA beobachten können. Dort haben auch viele Leute Trump gewählt, die jetzt unter der „Big Beautiful Bill“ leiden, weil sie noch weniger Geld haben als vorher. Zum Beispiel ist im Gesundheitssystem und bei den Sozialleistungen gekürzt worden. Und auch die amerikanischen Aktienkurse haben nicht von Trump profitiert. Da läuft im Gegenteil viel Geld nach Europa ab. Das ist in Amerika auch eher ein Problem für die weniger Wohlhabenden, weil deren Rente häufig in Aktien angelegt ist. Das wäre bei der AfD in Deutschland auch so. Aber irgendwie wollen die Leute das zumindest vor der Wahl nicht wahrhaben. Man fällt auf die Desinformation rein, weil es eine einfache Wahrheit ist. Und die übrigen Parteien machen den Fehler, dass sie die AfD noch stärker machen, indem sie auf deren Themen setzen.

Sehen Sie eine Lösung?

Die Kernfrage ist meines Erachtens tatsächlich, wie kann man Reformen durchsetzen, die auch die eigene Wählerklientel treffen und das so gut kommunizieren, dass man bei der nächsten Wahl nicht sofort wieder dafür abgestraft wird. Das ist aber noch nie wirklich gelungen. Auch Gerhard Schröder mit seiner Agenda 2010 ist am Ende abgewählt worden. Die Grünen erlitten für ihre ökologischen Reformen schmerzhafte Verluste. Vielleicht sind die kurzen Perioden zwischen den Wahlen eines der Probleme. Wer zu Beginn Reformen anstößt, hat nach vier Jahren noch keine ausreichend sichtbaren Erfolge vorzuweisen.


Sebastian Wen ist Professor für Soziologie an der Katholischen Hochschule Nordrhein-Westfalen in Köln. Er forscht zu Sozialstruktur und Sozialer Ungleichheit. Aktuell befasst er sich beispielsweise mit dem Gender Class Gap in Deutschland und der Wählerschaft der AfD.