Bi, pan, poly oder nicht binärHört doch endlich auf, mich zu labeln!

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KStA-Montage/Midjourney

Porträt einer jungen Frau

Im Pride Month drücken Außenstehende anderen besonders gern ein Label auf. Plötzlich meinen alle zu „wissen“, wer schon immer bi, pan, poly oder nicht binär war. Ist das übergriffig? Eine persönliche Ansicht.

Hat Lady Gaga einen Penis? Dank eines Twitter-Threads wurde ich kürzlich an eine der absurdesten Debatten der späten 2000er-Jahre erinnert. Monatelang spekulierten Klatschblätter wie seriöse Journalistinnen und Journalisten darüber, ob Popsängerin Lady Gaga eine „Hermaphrodite“ sei – also sowohl über Penis als auch Vagina verfüge. Heute würde man wohl eher von inter* sprechen. So absurd die Diskussion damals war, so ikonisch ist heute die Reaktion von Gaga auf die Gerüchte.

Ja, vielleicht habe sie einen Penis, sagt Gaga in einem Interview. „Wäre das so schlimm?“, fragt sie mit schelmischem Blick. Und nachdem sie sich Lady-Gaga-typisch einen Fake-Diamanten aus ihrem Mund fischt, an dem sie zuvor gelutscht hatte, wird sie ernster: „Warum soll ich meine Zeit damit verschwenden, eine Pressemitteilung zu der Frage zu veröffentlichen, ob ich einen Penis habe oder nicht? Meinen Fans ist das egal – und mir auch.“

Doch vielen Menschen ist genau das, auch zehn Jahre später, noch immer alles andere als egal. Vielleicht nicht unbedingt die Frage, ob Lady Gaga einen Penis hat. Aber die Frage, ob andere Menschen mal einen hatten oder nicht. Ob sie schwul oder bi sind, trans oder cis: Denn auch heute scheint es noch immer eine regelrechte Obsession damit zu geben, die Geschlechtsidentität oder auch die sexuelle Orientierung anderer Menschen ständig labeln, also festlegen zu wollen.

Harry Styles und die geheimnisvollen Pride-Flaggen

An Gagas Stelle ist inzwischen zum Beispiel Harry Styles gerückt, der Pop-Beau der 2010er-Jahre. Ist er nun …? Ja, was denn eigentlich? Schwul? Bi? Mindestens „metrosexuell“, so hätte man ihn auf jeden Fall in den frühen 2000ern gelabelt, als für Männer, die eine Nagelbürste besitzen, eine Gesichtscreme benutzen oder ihre vermeintlich „weibliche Seite“ auf andere Weise ausleben, erst noch ein Wort erfunden werden musste.

Noch immer tragen Menschen wie Harry Styles in den Augen mancher zu viel Tüll, zu viel Glitzer, zu bunte, enge Overalls, um hetero und männlich zu sein. Er bediene sich einem „queeren Style“, ohne sich als queer zu outen und bewege sich damit auf einem schmalen Grat, schreibt etwa Anna Marks in einem Essay in der „New York Times“. Vielleicht ist Styles queer. Vielleicht spielt er aber auch einfach nur gern mit Geschlechterstereotypen und kleidet sich so, wie er es eben tut. Weil Mode Menschen Spaß machen darf, unabhängig von Geschlechtsidentität und sexueller oder romantischer Orientierung.

Doch in ihrer Label-Lust greifen viele Menschen noch immer in die nächstgelegene Klischeekiste: Eine bestimmte Gestik, eine höhere Stimme oder eine gewisse Art, sich zu kleiden, reicht manchen schon, um einem Menschen das Label „schwul“ aufzudrücken. Trifft allerdings keines der verinnerlichten Stereotype zu, heißt es genauso gern: „DU bist schwul? Das hätte ich ja NIE gedacht!“

Labels sind fehleranfällig

Nun stimmen Vorurteile ja manchmal auch, werden einige sagen. Und Menschen in Schubladen zu schieben macht unsere überkomplexe Welt eben einfacher. Aber am Ende bleiben diese Klischees zu sexueller und romantischer Orientierung oder Geschlechtsidentitäten genau das: einfach. Zu einfach.

Als ich einmal mit meiner Ex‑Freundin Händchen haltend im Park spazieren ging, wurden wir von einem Passanten als „Scheißlesben“ bezeichnet. Dass das politisch inkorrekt ist, geschenkt. Aber es ist auch rein faktisch falsch: Denn ich bin nicht lesbisch, sondern bi.

Bisexualität ist nur eines der unsichtbareren Labels auf dem LGBTQIA+-Regenbogen: Wer etwa genderfluid ist, wird ständig ungefragt von außen falsch gelabelt und aufgrund von Äußerlichkeiten als Mann oder Frau eingeordnet. Aromantischen Menschen wird automatisch ein romantisches Verlangen unterstellt. Und wer bi ist, gilt je nach Partnerin oder Partner häufig entweder als hetero, schwul oder lesbisch.

Schubladen für die Tonne

Doch ständig in die falsche Schublade gesteckt zu werden nervt. Es kann zu Mikroaggressionen führen: Dazu zählen alltägliche Kommentare, Fragen oder auch nonverbale Handlungen, die vor allem Menschen der LGBTQIA+-Community oder auch BIPOC ständig treffen. Fragen wie „Bist du ein Junge oder Mädchen?“ sind oft nicht einmal böse gemeint, lassen viele betroffene Menschen aber trotzdem unsicher und unwohl fühlen. Diese alltäglichen Mikroaggressionen summieren sich und können sich negativ auf die psychische Gesundheit auswirken.

Es war einfach hart, dass so viele sich in etwas eingemischt haben, womit ich mich selbst noch gar nicht auseinandergesetzt hatte
Lena Mantler

Wenn Außenstehende meinen, die sexuelle oder romantische Orientierung oder Geschlechtsidentität einer anderen Person zu kennen, ist das anmaßend – besonders, wenn sie selbst noch in einer Findungsphase ist. Denn damit nimmt man Menschen die Deutungshoheit über ihre eigenen Empfindungen, ihren eigenen Körper, ihre eigene Identität, ihre eigene Wahrheit. Man verkürzt die komplette Identität und Persönlichkeit eines Menschen auf Geschlecht und Sexualität. Und das erzeugt Druck.

„Es war einfach hart, dass so viele sich in etwas eingemischt haben, womit ich mich selbst noch gar nicht auseinandergesetzt hatte“, sagte etwa Lena Mantler kürzlich in einem Interview mit der deutschen „Vogue“. Mantler ist der breiten Öffentlichkeit wohl besser als Teil des Tiktok-Accounts „Lisa und Lena“ bekannt, den die Zwillingsschwestern mit 13 Jahren starteten. Vor allem für ihre Tanzvideos wurden die zwei berühmt. Doch seit vier Jahren – Lena ist da 16 – spekulieren Tiktok-Userinnen und ‑User unter den Videos ständig darüber, ob Lena homosexuell ist. Weil diese gern weite Shirts und Mützen trägt und mal einen queerpositiven Song im Hintergrund eines Videos laufen ließ.

Schrei nach „Queerbaiting“

„Man hat mir eine Überschrift aufgedrückt, ohne darüber nachzudenken, ob sie zu mir passt“, sagt Mantler im Gespräch mit der „Vogue“. Zu den Spekulationen um ihre Sexualität hatte sie sich lange nicht geäußert, sondern zog sich zurück. Daraufhin war ihr Queerbaiting vorgeworfen worden: Mantler würde queer tun für die Klicks. Ein niederträchtiger Vorwurf, der auf mindestens drei Ebenen problematisch ist: Denn er verhehlt erstens all die negativen Konsequenzen, mit denen ein Coming-out auch heutzutage noch verbunden ist. Nicht nur für Personen, die in der Öffentlichkeit stehen.

Zweitens blendet er aus, dass das eigene Coming-out ein Prozess ist, der ein ganzes Leben dauern kann. Dabei dürfen Labels ausprobiert und abgelegt werden – nur erzwingen darf sie keiner. Und nicht zuletzt gehört zur sexuellen Selbstbestimmung eines Menschen nicht nur die Freiheit, sich und seine romantische, sexuelle oder geschlechtliche Identität ausleben und mitteilen zu dürfen, sondern eben auch das Recht, dazu zu schweigen.

Kein Mensch ist anderen ein Label schuldig

Natürlich ist es selten böse gemeint, wenn Fans, Verwandte oder Freundinnen und Freunde daran interessiert sind, ob und wo man sich auf dem queeren Regenbogen verordnet. Allzu häufig ist ein exzessives Nachfragen oder – im schlimmsten Fall – ungefragtes Labeln aber übergriffig und distanzlos. Denn der Glaube, jemanden in eine fein säuberlich beschriftete Schublade stecken zu dürfen, ist Ausdruck einer alten Machtstruktur. Einer Zeit, in der es viel zu lange selbstverständlich und okay war, Menschen automatisch heterosexuelles Begehren zu unterstellen.

Solange wir diesen Glauben nicht überwunden haben, wird es wohl leider nicht allen egal sein, ob Lady Gaga einen Penis hat, wen Lena Mantler begehrt und aus welchen Gründen Harry Styles auf Konzerten die Pride-Flagge schwenkt.


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Aber kein Mensch sollte dazu verpflichtet sein, anderen einen Einblick in die eigene Intimsphäre zu geben – egal wie berühmt er ist. Und keinem Außenstehenden steht es zu, sich darin einzumischen. Denn wenn eine Person irgendwen labeln sollte, dann immer nur sich selbst.


Dieser Text gehört zur Wochenend-Edition auf ksta.de. Entdecken Sie weitere spannende Artikel auf www.ksta.de/wochenende.

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