KlimaschutzDie neuen Freunde der Kernkraft

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Illustration: Kühltürme an einem Fluss.

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Der Klimaschutz verändert den Blick. Die Atomkraft, in Deutschland totgesagt, findet weltweit neue Freunde – sogar in ehemaligen Ausstiegsstaaten wie Schweden. Beim UN-Klimagipfel in Dubai haben 22 Staaten soeben vereinbart, ihre AKW-Kapazitäten bis zum Jahr 2050 zu verdreifachen.

Atomkraft? Viele Deutsche wollen davon am liebsten gar nichts mehr hören. Sie sind froh, dass Bundeskanzler Olaf Scholz die Sache im September dieses Jahres für endgültig erledigt erklärt hat: „Das Thema Kernkraft ist in Deutschland ein totes Pferd.“

Die Welt um uns herum sieht es allerdings ein bisschen anders. Beim UN-Klimagipfel in Dubai zum Beispiel zeigte sich dieser Tage das tote Pferd verblüffend lebendig. Da verabredeten 22 Staaten der freien Welt, ihre AKW-Kapazitäten bis zum Jahr 2050 zu verdreifachen. Anders, heißt es in der gemeinsamen Erklärung, sei die geforderte Reduzierung des Kohlendioxidausstoßes nicht zu schaffen.

Unsere jüngsten Mitglieder haben die Dinge neu gewichtet.
Veli Liikanen, Generalsekretär der finnischen Grünen

Zu den Unterzeichnerstaaten gehören die USA, Kanada, Japan, Südkorea, Frankreich, Großbritannien, die Niederlande, Polen, Schweden, Finnland, Tschechien, Ungarn und Rumänien. Sie alle schielen jetzt auf Kredite der Weltbank. Russland und China investieren ohnehin seit Langem beträchtliche Summen in die Atomenergie. Peking plant derzeit sechs bis acht neue Reaktoren pro Jahr. 55 sind schon am Netz.

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Das Anti-Atom-Land Deutschland wurde zur Runde der 22 in Dubai gar nicht erst eingeladen. Man wollte die Berliner nicht in Verlegenheit bringen. Jeder wisse doch, wird in der Branche gewitzelt, dass die Deutschen an dieser Stelle „anders sind als die anderen Kinder“.

Eine Zeit lang gab es so etwas wie abwartenden Respekt gegenüber den Deutschen und ihrem energiepolitischen Sonderweg. Inzwischen aber regieren Hohn und Spott. Bei der boomenden Messe World Nuclear Exhibition 2023 bei Paris schüttelten viele Teilnehmer nur noch den Kopf über Deutschland. „Schade“, gab dort ein französischer Manager dem „Spiegel“ zu Protokoll. „Ich mag die Deutschen, die machen gute Arbeit. Sie hatten die besten Atomkraftwerke.“

Hatten. Am 15. April dieses Jahres schaltete Deutschland seine drei modernsten und leistungsfähigsten Kernkraftwerke ab. Grüne und SPD hatten innerhalb der Ampelkoalition darauf bestanden.

Die AKW Emsland (Niedersachsen), Isar 2 (Bayern) und Neckarwestheim 2 (Baden-Württemberg) lieferten genug Strom für zehn Millionen Haushalte. Nicht nur Union und FDP in Deutschland sahen deren Abschaltung als Fehlentscheidung. Klimaschützer rund um den Globus schlugen die Hände über dem Kopf zusammen. Allein diese drei Reaktoren hätten dem Planeten den Ausstoß von 30 Millionen Tonnen Kohlendioxid pro Jahr erspart, hieß es in einem von Physikern und Klimaforschern aus aller Welt, darunter zwei Nobelpreisträgern, unterzeichneten Brandbrief an den deutschen Bundeskanzler.

Die Forscher plädierten dafür, die Abschaltung in letzter Minute zu stoppen. Ein Laufenlassen der deutschen Reaktoren liege „im Interesse der Bürger Europas und der Welt“. Doch der Appell drang nicht durch. In Berlin dominiert ein Denken in den Kategorien nationaler Verabredungen. Die in Parlament und Regierung angekommene Anti-Atom-Bewegung beharrte auf ihrem Ziel, knapp vier Jahrzehnte nach dem Unglück im Sowjetreaktor Tschernobyl wenigstens in Deutschland alle Reaktoren stillzulegen.

Höherer Kohlendioxidausstoß als Frankreich

Der Zeitpunkt für den Ausstieg hätte nicht schlechter gewählt werden können. Der entstandene Schaden ist beträchtlich: strategisch, ökonomisch, klimapolitisch.

Der Atomausstieg schwächt Deutschlands Stromversorgung in einem Moment, in dem Russland den größten Krieg in Europa seit 1945 begonnen hat. Er steigert die Verunsicherung von Firmen wegen hoher Strompreise und treibt Investitionen ins Ausland. Und, darin liegt der Hohn, er trübt zudem noch Deutschlands Klimabilanz. Im Ergebnis steht Deutschland doppelt dumm da: Berlins Energiepolitik verbindet das ökonomisch Schädliche mit dem ökologisch Peinlichen.

Schon seit vielen Jahren erlauben sich die Deutschen pro Kopf einen deutlich höheren Kohlendioxidausstoß als etwa Frankreich. Mit der neuerdings wieder wachsenden winterlichen Gas- und Kohleverstromung wird Deutschlands klimapolitischer Fußabdruck sogar noch etwa hässlicher als bisher.

Regierungen anderer EU-Staaten sprechen darüber nur hinter vorgehaltener Hand an. Vor dem Beginn der Weltklimakonferenz in Dubai aber traute sich der Chef der Weltorganisation für Meteorologie, der Finne Petteri Taalas, ausnahmsweise mal Klartext zu: Deutschland solle, sagte er in Genf, „den Atomausstieg überdenken“. Ohne Atomkraft den Kohleausstieg zu bewerkstelligen und trotzdem genügend bezahlbare Energie herzustellen, werde nämlich schwierig.

Anders als die Deutschen haben die Skandinavier frühzeitig das Dilemma als solches erkannt. In Finnland zum Beispiel formierte sich sogar bei den Grünen schon vor einigen Jahren eine Strömung, die nach und nach die Gefahren durch den Klimawandel als gravierender empfand als die Gefahren durch den Betrieb moderner Kernreaktoren.

„Unsere jüngsten Mitglieder haben die Dinge neu gewichtet“, sagt Veli Liikanen, Generalsekretär der finnischen Grünen. „Heute sind bei uns viele im Alter von 20 plus unterwegs, die selbst aus technischen Berufen kommen und wohl auch deshalb wenig Angst vor Technik haben. Was ihnen wirklich Angst einjagt, ist der Klimawandel.“

Finnland diskutiert über das Thema ohne die in Deutschland übliche Feindseligkeit. Zur entspannteren Gangart trug bei, dass Finnland die leidige Endlagerfrage beantwortet hat: durch bereits im Bau befindliche Strukturen in einer Felsformation. Die Finnen wollen ihre radioaktiven Abfälle in Granit einlagern und dann auf Nimmerwiedersehen zuschütten. Als Lagerstätte wurde „fennoskandisches Grundgebirge“ ausgesucht, das schon 1,8 Millionen Jahre in seiner jetzigen Formation überdauert hat.

Wunsch nach preiswerter Energie

Diese Aussichten ließen die Risiken der Atomkraft aus finnischer Sicht auf ein beherrschbares Maß schrumpfen. Gewachsen ist indessen der Wunsch, unabhängig zu bleiben vom unberechenbaren Nachbarland Russland. Hinzu kommt der Wunsch, die Menschen schon aus Gründen der sozialen Gerechtigkeit mit preiswerter Energie zu versorgen.

Ähnlich ticken die Schweden. Jahrzehntelang war das Land auf Atomausstiegskurs. Doch an drei Standorten blieben sechs Reaktorblöcke am Netz. Inzwischen formieren sich Mehrheiten für einen umfassenden nuklearen Neustart.

Zu den wichtigsten Pro-Atom-Treiberinnen in Schweden gehört die Umweltministerin. Für die erst 28 Jahre alte Romina Pourmokhtari gehören Klimaschutz und Atomkraft zusammen. Anders sei beispielsweise der Umstieg auf E-Mobilität nicht zu schaffen.

Pourmokhtari, eine Liberale, wurde als Tochter eines iranischen Einwanderers in einem Vorort von Stockholm geboren. In Uppsala hat sie Politik studiert. Pourmokhtaris unkonventioneller Politikmix hat anfangs viele verwirrt, findet aber zunehmend Anhängerinnen und Anhänger. Sie setzt sich ein für höhere Steuern auf Kohlendioxidemissionen und auf Kapital, zugleich verlangt sie niedrigere Steuern auf Arbeit und Strom.

In einer Erklärung zum Thema „Ny Kärnkraft“ (Neue Kernkraft) schrieb Pourmokhtari im November, Schweden müsse sich auf die Verdopplung des Stromverbrauchs in den nächsten 20 Jahren einstellen. Ihre Regierung wolle daher „den Betrieb von mehr als zehn Reaktoren zulassen und den Bau von Reaktoren auch dort ermöglichen, wo es derzeit keinen Reaktor gibt“.

Polen hat in diesem Herbst schon Nägel mit Köpfen gemacht. Am 29. September verkündete die Regierung in Warschau eine Zeitenwende: den Einstieg Polens, das jahrhundertelang an der Kohle hing, in die zivile Nutzung der Kernenergie, und zwar auf breiter Front. Als Erstes plant Polen den Bau von drei Reaktoren an der Ostseeküste, im Ort Choczewo, eine Autostunde nordwestlich von Danzig. Die Verträge wurden bereits feierlich unterschrieben. Vertreter zweier amerikanischer Konzerne reisten an: Kernkraftspezialist Westinghouse und Bauriese Bechtel. Bis 2043 will Polen insgesamt sechs neue Kernreaktoren ans Netz gehen lassen. Auch südkoreanische Technologieanbieter sollen zum Zuge kommen. In früheren Zeiten wäre das ein Fall für Siemens gewesen.

Das Beispiel Polen zeigt: Die in Dubai an die Öffentlichkeit getretene Pro-Atom-Allianz will nicht nur Erklärungen abgeben und Papiere bedrucken. Sie ist schon dabei, Fakten zu schaffen, in großem Stil – und an Deutschland vorbei.


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