Viele Menschen – auch vermehrt jüngere – beobachten in Deutschland Vögel. Was lockt einen stundenlang nach draußen, wenn es kalt und dunkel ist? Ein Besuch auf dem Kranichbeobachtungsturm.
Menschen, die auf Vögel starrenWieso trendet Birdwatching?
Es dämmert. Es ist kalt. Es ist windig. Weit oben, auf dem sechseinhalb Meter hohen Beobachtungsturm, richtet sich Robert Schröder ein. Sein Spektiv mit 60-fach-Vergrößerung steht schon. Jetzt stellt der 47-Jährige das Fernrohr scharf. Vor ihm sind 2000 Hektar Moor. Viel Flachwasser, ein paar Sträucher. Weitblick, fast wie am Meer. Robert Schröder weiß: Gleich werden die Kraniche landen. Tausende, vielleicht Zehntausende. Je dunkler es wird, umso mehr.
Wenn die Tiere auf ihrer Route gen Süden im Tister Bauernmoor im niedersächsischen Landkreis Rotenburg (Wümme) rasten, kommt Robert Schröder gleich mehrfach vorbei. Er nennt den Vogelzug im Herbst ein „Erlebnis“. Dafür nimmt er auch die halbstündige Autofahrt aus Seevetal nahe Hamburg in Kauf. Diesmal hat er sich sogar extra einen Tag unter der Woche freigenommen. Auf weniger Kranichtourismus als sonst hat Robert Schröder gehofft. In vierter Reihe, wie seit ein paar Jahren üblich, quetscht sich an diesem Abend im November glücklicherweise niemand. Trotzdem drängen sich zahlreiche Menschen auf den Holzbänken.
Da ist Susanne, Robert Schröders Frau. Sie reicht eine Snackbox mit Apfelsticks und schlürft Tee. In der Ecke, ganz hinten, verschanzt sich eine Gruppe Naturfotografen. Sie wollen unter sich bleiben. Drei Stunden aus Ostwestfalen sind sie angereist, um im Camouflagelook mit gigantischen Teleobjektiven vor dem Bauch baumelnd Kraniche und Seeadler abzulichten.
Schal um den Hals, Stirnband und Kapuze tief im Gesicht: Kaum zu erkennen ist Anne Löwenstein. Bei ihr geht es geselliger zu. Trotz Wind und Kälte hockt sie mit Mutter und Schwiegermutter ganz vorne im Turm. Als die trompetenartigen Rufe der Kraniche zunehmen, werden im Wechsel Fernglas und Teetasse herumgereicht. „Wie imposant“, raunt die 29-Jährige. „Ein echtes Naturspektakel.“
Das Bild des Birdwatchers ändert sich
Nicht nur in Tiste sind Vogelguckende, auch Birdwatcher oder Birder genannt, vermehrt unterwegs. Immer mehr Hobby-Ornithologen und -Ornithologinnen pilgern hierzulande den Vögeln hinterher. Rekordzahlen bemerkt der Nabu bei der „Stunde der Wintervögel“. 2022 haben rund 176.000 Menschen in Gärten, Parks und Balkonen Vögel gezählt. Nur im Vorjahr hat es noch mehr gegeben: rund 236.000. Coronabedingt war das ein Hobby, das trotz Lockdown und Schutzmaßnahmen noch funktionierte, erklärt sich die Naturschutzorganisation den Zulauf. Aber ist es nur das, was die Menschen lockt? Vögel finden und zählen, vielleicht ein gutes Foto schießen?
Anruf bei Thomas Griesohn-Pflieger, Mitbegründer von „Birdingtours“. Seit über 40 Jahren ist er in der Vogelbeobachtungsszene unterwegs, seit 20 Jahren bietet er Exkursionen für Vogelliebhaber und -liebhaberinnen an. Uckermarck, Bulgarien, Tansania – 153 Ziele in 49 Ländern kann man buchen. Rund 2000 Teilnehmende ließen sich inzwischen jährlich auf eine Vogelreise ein. Wenngleich es noch eine Nische sei, die Tendenz steige, sagt Griesohn-Pflieger. „Sehr deutlich“ bemerke er auch sonst Veränderungen, wenn er selbst loszieht, um Vögel zu beobachten. Traf er früher vor allem betagte Herren, Mitte 60, seien Birder heutzutage im Schnitt knapp unter 50. „Es sind auch sehr viel mehr Frauen unterwegs.“
Mit der Welt verbunden fühlen
Seine Erklärung für das steigende Interesse: „Das ist einfach eine unglaublich tiefe Entspannung. Man kann zum Yoga gehen – oder eben Vögel beobachten.“ Er kenne das von sich selbst. Der ständige Gedankenstrom im Kopf setze aus, wenn man den Wind, die Sonne, die Kälte spürt. Das Laub rascheln hört. Das Gebüsch absucht nach Tieren. „Das tut einfach gut“, sagt der 69-Jährige. Beobachtet er eine Kranichfamilie, fühle er sich mit der Welt verbunden.
Dass er seine Gefühle so offen äußert, ist neu. Das habe man sich als Vogelkundler lange nicht erlauben dürfen, sagt Griesohn-Pflieger. Wissenschaftlich musste man sich äußern. Ganz anders sei etwa die Birding-Kultur in Großbritannien. „Jeder Brite mit eigenem Garten weiß genau, wann die Amsel das erste Ei gelegt und der Zaunkönig angefangen hat zu singen“, sagt der Vogelkundler. „Die Engländer haben es sich schon immer herausgenommen, über die Natur zu schwärmen.“ In Deutschland hingegen sei man dafür lächerlich gemacht worden. Das ändere sich momentan.
Auch Robert Schröder kommt auf dem Tister Beobachtungsturm ins Schwärmen. „Die Kraniche hier so zu sehen, das freut mich einfach“, sagt er. Seine Frau Susanne nickt. „Einfach schön, einfach toll“, betont sie mehrfach. Die beiden harren noch lange aus. Wenngleich die lauten, trompetenartigen Kranichrufe langsam abnehmen. Auch der Landeanflug ist in der Dämmerung kaum noch zu sehen. Dicht gedrängt stehen die meisten Vögel inzwischen im Wasser. Hier sind sie sicher vor Fuchs und Wildschwein.
Die Schröders verlassen den Beobachtungsturm erst, als es stockfinster ist. Mit Taschenlampen bahnen sie sich den Weg zurück zum Auto. Ansonsten gibt es keine Lichtquelle. Zweieinhalb Kilometer geht es über einen matschigen Pfad durch das Moor. Jetzt ist es wirklich still. Die Kraniche schlafen.
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