„Gesinnungscheck“ und FolterRussland verschleppt Ukrainer in „Filtrationslager“

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Ukrainische Soldaten aus dem Stahlwerk in Mariupol in einer russischen Strafkolonie. Das Foto wurde vom russischen Verteidigungsministerium veröffentlicht.

Kiew/Moskau – „Ghetto“ nennen die Einwohner die improvisierte Haftanstalt in dem russisch besetzten Dorf Bezimenne 30 Kilometer östlich von Mariupol. Es ist eine Schule am Saum des Asowschen Meeres – nur wird hier nicht mehr unterrichtet, sondern die russischen Truppen halten hier Menschen gefangen. Es ist ein sogenanntes Filtrationslager, von denen es in der Ukraine seit Kriegsbeginn einige entstanden sind.

Dort überprüfen die russischen Armeeangehörige Ukrainer aus besetzten Gebieten auf ihren Status und ihre Gesinnung. So sollen angeblich Kämpfer ausfindig gemacht werden, die sich als Zivilisten ausgeben, um sie zu verhaften oder auch nach Russland zu verschleppen. Berichten zufolge herrschen in den Lagern teils unmenschliche Bedingungen.

Die „Washington Post“, die Videos aus dem „Ghetto“ erhalten hatte, hat den Ort vor etwa zwei Wochen verifizieren können. In das sogenannte „Filtrationslager“ wurden demnach Leute aus dem zerstörten und jüngst von russischen Streitkräften angeblich vollständig eroberten Mariupol verbracht. In dem „Ghetto“ werden Pässe und Dokumente einbehalten. Es gibt keine medizinische Versorgung, und den Insassen wird offenbar mit Folter oder sogar Hinrichtung gedroht.

In den Filtrationslagern herrschen menschenunwürdige Zustände

In einem Beitrag des Deutschlandfunks sagte der aus dem Donbass stammende Journalist und Schriftsteller Stanislaw Assejew, es gebe in dem Lager lediglich einen Wasserhahn für 350 Menschen, das ganze Gebäude sei eine einzige „bestialisch stinkende“ Toilette. Einen Tuberkulosekranken hätten die Russen hinausgeschleppt. Der Ort sei „die Hölle“ – elektrische Stromschläge erhielten 99 Prozent der Inhaftierten, Elektroschocks an den Genitalien neun von zehn Gefangenen. Unabhängig überprüfen lassen sich diese Angaben nicht.

Mariupol Soldaten 190522

Ukrainische Soldaten und Zivilisten verlassen das Stahlwerk in Mariupol. Das Foto wurde vom russischen Verteidigungsministerium veröffentlicht.

An „Filtrationspunkten“ und in „Filtrationslagern“ auf russisch besetztem ukrainischen Boden finden laut Zeugenaussagen „Gesinnungschecks“ statt. Filtriert werden hier, wie Vera Ammer, Mitglied der Menschenrechtsorganisation Memorial Deutschland, gegenüber dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND) sagt, „die Personen, die nach Russland oder in die besetzten Gebiete, einschließlich der sogenannten ‚Volksrepubliken‘ ‚evakuiert‘ werden und denen eine Flucht in ukrainisch kontrollierte Gebiete verwehrt wird.“

Memorial-Mitarbeiterin: „Die Insassen sind völliger Willkür unterworfen“

Zunächst würden dort – Augenzeugenberichten zufolge – Befragungen durchgeführt. „Bist du für Russland oder für die Ukraine?“ Dann würden die Telefone auf verdächtige Inhalte und Kontakte überprüft und Fingerabdrücke genommen, Fotos gemacht, Tätowierungen eingestuft. Etwa jeder Zehnte werde in ein Filtrationslager wie das in Bezimenne verbracht. Und möglicherweise nicht nur das: „Sie lassen Menschen verschwinden, die offen pro-ukrainische Positionen vertreten“, wird Ljudmila Denisowa, die Ombudsfrau für Menschenrechte im ukrainischen Parlament, in der „Washington Post“ zitiert.

„Die ‚Insassen‘ sind völliger Willkür ausgesetzt“, sagt Vera Ammer, „sie werden gefoltert, nach Dingen befragt, die militärisch relevant sein könnten, nach familiären Umständen, Verwandten, die möglicherweise in ukrainischen Behörden oder gar in der Armee arbeiten – was dann entsprechende Konsequenzen nach sich zieht. Es wird von Erschießungen berichtet.“

„Filtrationslager sind eine berüchtigte russische Tradition“

Ukrainische Behörden hatten den Kreml schon im März beschuldigt, ukrainische Zivilisten auch nach Russland zu verbringen. Russische Evakuierungskorridore aus umkämpften Städten führten Flüchtlinge durch die Gebiete der Separatisten auf russischen Boden. Die Vorwürfe über schlimme Zustände in den Lagern konterte Russland mit Videos, in denen temporäre Zeltlager zu sehen waren, in denen humanitäres Verhalten der Russen gegenüber den Bewohnern Mariupols gezeigt wurde.

„Filtrationslager sind eine berüchtigte sowjetische und russische Tradition“, berichtet Ammer. „Gegen Ende und nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurden dort repatriierte Zivilpersonen – vor allem Personen, die unter deutscher Besatzung nach Deutschland zur Zwangsarbeit verschleppt worden waren und sowjetische Kriegsgefangene ‚filtriert‘ und inhaftiert, die in deutsche Gefangenschaft geraten waren und die im sowjetischen Verständnis als ‚Verräter‘ galten.“

Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit

Dass den russischen Kräften beim „Ausfiltern“ kein Beweis irgendeines Fehlverhaltens vorliegen muss, ist von den Tschetschenen-Kkriegen her bekannt. Die in Russland inzwischen verbotene Organisation Memorial International gab an, dass bei vorsichtigen Schätzungen mindestens 200.000 der damals etwa einer Million Tschetscheninnen und Tschetschenen die Filtration durchlaufen hätten. Praktisch alle hätten dort Schläge und Folter erlitten. Auch hier habe es spontane Exekutionen gegeben.

„Diese Filtrationslager sind in jedem Fall als Verbrechen gegen die Menschlichkeit und als Kriegsverbrechen zu bewerten“, bekräftigt Ammer. „Die Verantwortlichen müssen dafür zur Rechenschaft gezogen werden.“ Einen Hinweis darauf, was zur Verfolgung der Filtrationsverbrechen in der Ukraine geschehen wird, sollte diese in russischer Hand liegen, gibt die Forderung der Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen zu den Vorgängen in Tschetschenien, die – eine entsprechende Resolution wurde auch von der EU unterstützt – von Russland die Einsetzung einer „nationalen Untersuchungskommission“ verlangte, um die Verantwortlichen dingfest zu machen.

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Nichts geschah. Und so soll es nicht wieder werden. „Das darf nicht vergessen werden“, fordert Ammer, die schon im Vorstand von Memorial Deutschland und Memorial International tätig war. „Das Thema muss bei allen Verhandlungen auf den Tisch.“

Die Zahl der nach Russland verbrachter Ukrainerinnen und Ukrainer ist derzeit nicht überprüfbar. Amerikanische Schätzungen gehen von Zehntausenden aus, die ukrainische Regierung spricht von 1,2 Millionen Menschen, darunter auch rund 200.000 Kinder. Nicht alle werden allerdings festgehalten oder in die Tiefe Russlands verschleppt, einigen gelingt sogar die Flucht.

Gut vernetzte Gruppen helfen den Ukrainern in Russland außer Landes

Wie das möglich ist? „Es gibt in Russland zahlreiche Gruppen, die ukrainische Flüchtlinge unterstützen und ihnen dabei helfen, ins Baltikum oder nach Polen zu kommen“, so Ammer. „Diese Gruppen sind miteinander vernetzt, sie agieren aber kaum öffentlich, zumal das alles andere als ungefährlich ist.“ Auf alle mögliche Weisen würden diese Leute helfen, so Ammer – mit Geld, Materiellem, beim Besorgen von Fahrkarten.

Warum Putin Filtration und Deportation eingesetzt? „Man will potenzielle Gegner, künftige Partisanen und ihre Unterstützer ausschalten“, ist sich Ammer sicher. „Und für Abschreckung sorgen.“ Dass Putin sich damit schon jetzt für den Fall einer Niederlage ein Faustpfand für Erpressungen schafft, hält sie dagegen für „weniger wahrscheinlich“.

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