Mit Raketen auf KirchenWie Russland die ukrainische Kultur zerstört

Lesezeit 5 Minuten
Mariupol Zerstörung Kirche

10. März 2022: Schutt liegt nach russischen Angriffen um eine Kirche im ukrainischen Mariupol.

Kiew – Der russische Angriffskrieg vernichtet nicht nur Militärbasen, Industriebetriebe und Verkehrsinfrastruktur in der Ukraine, sondern auch viele Kulturgüter. Etwa 400 Museen, Kirchen, Denkmale und Archive sind nach fünf Monaten Krieg zerstört oder mindestens schwer beschädigt worden, rechnet Prof. Andrii Portnov vor. Der ukrainische Historiker lehrt an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder) und beobachtet das Geschehen in seiner Heimat sehr genau.

Er sieht hinter den russischen Angriffen Methode. „Es handelt sich um die zielstrebige Vernichtung der ukrainischen Kultur“, sagte Portnov auf auf einer vom Deutsch-Ukrainischen Forum (DUF) und der Robert-Havemann-Gesellschaft in Berlin digital veranstalteten Expertenrunde zur Gefährdung des ukrainischen Kulturerbes durch Russlands Angriffskrieg.

Zerstörung der kulturellen Identität

„Es ist erschütternd, was wir täglich sehen und hören“, sagte die Heidelberger Kulturwissenschaftlerin Prof. Aleida Assmann, die der Auffassung ist, dass Russland einen „Vernichtungskrieg gegen alles Ukrainische“ führt. Durch die Zerstörung von Kulturgütern erhoffe sich der Aggressor auch die Zerstörung der kulturellen Identität der Bevölkerung, sagte Assmann.

Der Krieg verlaufe nach dem Schema, dass der Zerstörung des nationalen Modells der Unterdrückten, das Aufzwingen des nationalen Modells der Unterdrücker folge, sagte Assmann. Die Wiedererrichtung eines Lenin-Denkmals im Gebiet Cherson sei ein sichtbares Zeichen, dass die russischen Besatzer schon jetzt dabei sind, die neu entstandene Erinnerungskultur der Ukraine auszulöschen und durch ihre „bewährten“ Zeugnisse zu ersetzen, erläuterte DUF-Vizevorsitzender Gerald Praschl.

Ukrainische Hinweisschilder durch russische ersetzt

In den besetzten Gebieten würden ukrainischen Hinweisschilder durch russische ersetzt, und Straßen umbenannt. An die Stelle einer Maidan-Allee tritt dann wieder die Lenin-Allee, so als würden die Okkupanten im Auftrag der alten Sowjetunion handeln, sagte Praschl.

Die beiden Doktoranden am Lehrstuhl „Entangled History of Ukraine“ der Viadrina, Oleksii Isakov und Bozhena Kozakevych, haben die Zerstörung ukrainischer Kulturgüter recherchiert und trugen Beispiele vor. Als im Frühjahr sechs Wochen lang die nordukrainische Stadt Tschernihiw von russischen Truppen belagert und beschossen wurde, ging mit dem Gebäude des heutigen ukrainischen Inlandsgeheimdienstes SBU auch das alte Archiv des sowjetischen NKWD in Flammen auf.

„13.000 Akten wurden verbrannt“

Archivmitarbeiter konnten unter Lebensgefahr nur wenige Akten aus dem brennenden Gebäude retten und vor den russischen Besatzern verborgen halten. Die NKWD-Akten waren erst vor wenigen Jahren für Historiker geöffnet worden; sie geben unter anderem Aufschluss über die politische Verfolgung hunderttausender Ukrainer während der Sowjetzeit.

„13 000 Akten wurden verbrannt“, berichtete Kozakevych und zitierte den Direktor des Archivs, der beklagte: „Niemand wird mehr die Wahrheit über die Vergangenheit des sowjetischen Geheimdienstes in dieser Region erfahren und es wird auch keine Rehabilitierungen von Opfern mehr geben können.“ Unter den vernichteten Dokumenten waren auch 3000 Personalakten einstiger sowjetischer Geheimdienstmitarbeiter.

Ukraine droht unwiederbringlicher Verlust

Aus Mangel an Geld sind bis heute viele Unikate in ukrainischen Museen und Archiven nicht digitalisiert, weshalb ihnen unwiederbringlicher Verlust droht. Von einem positiven Beispiel berichtete Kateryna Kobchenko, wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Taras-Schewschenko-Universität in Kiew: „Bei uns werden derzeit jeden Tag bis zu 15 000 Blätter aus dem Historischen Archiv von Kiew gescannt und digital archiviert“, sagte Kobchenko.

Darüber hinaus gebe es inzwischen feuerfeste Verpackungen für Unikate und besonders wichtige Exponate und Dokumente. Der Gesamtumfang belaufe sich auf geschätzte 70 LKW-Ladungen, weshalb es kaum möglich sei, die Dinge aus Kiew abzutransportieren und irgendwo anders einzulagern. „Wir bemühen uns, alles Wertvolle in Kiew zu sichern und vor Zerstörung zu schützen“, sagte Kobchenko.

Öffentlichen Denkmale stark beschädigt

Das gilt auch für die öffentlichen Denkmale in der Hauptstadt. Wie Kobchenko berichtete, sind im Frühjahr in einer großen Aktion 170 Tonnen Sand mit Hilfe vieler Freiwilliger und Firmen, die Material und Technik spendeten, ins Zentrum gebracht worden, um allen wichtigen Kulturzeugnisse mit Sandsäcken vor Beschuss zu schützen. „Da hatten wir mehr Glück als die Kollegen in Charkiw“, sagte Kobchenko.

Das könnte Sie auch interessieren:

In der schwer umkämpften nordukrainischen Millionenstadt, die in 1920er Jahren Hauptstadt der Sowjetukraine war, ist bei den russischen Angriffen auch das Slowo-Haus („Haus des Wortes“) mit seiner Gedenkstätte schwer beschädigt worden. 1929 errichtet, diente der fünfstöckige Bau ukrainischen Schriftstellern als Wohnsitz und war zugleich in Charkiw Treffpunkt vieler junger ukrainischer Künstler, von denen die meisten später unter Stalins großem Terror vom NKWD ermordet wurden.

Geistliche arbeiten nur noch im Untergrund

Der in Berlin lebende ukrainische Musiker und Autor Yuriy Gurzhys berichtete, dass er 2021 dort noch ein Album aufgenommen hat. „Für das, was danach dort geschehen ist, fehlen mir die Worte“, sagte der Musiker. Er initiiert kreative Projekte, um Geld für den Wiederaufbau zerstörter Kulturgüter in seiner Heimat zu sammeln. „Es fällt mir derzeit sehr schwer, überhaupt Musik zu machen.“

Jörg Drescher, der das DUF-Büro in Kiew leitet, berichtete über ein Gespräch mit dem orthodoxen Geistlichen Serhii Gorobtsow, der bis 2014 als Bischof für den heute zur Hälfte von den Russen besetzten Oblast Donezk (Verwaltungsgebiet) zuständig war und jetzt in Dnipro lebt. Im Oblast Donezk liegen 36 Gotteshäuser der vom Moskauer Patriachat unabhängigen Orthodoxe Kirche der Ukraine brach. „Es gibt dort keine Geistlichen mehr, sie arbeiten nur noch im Untergrund“, sagte Drescher.

„Alles, was ukrainisch ist, ist durch sie gefährdet“

Oleh Turiy, Vizerektor der Ukrainischen Katholischen Universität Lwiw (Lemberg), erklärte, dass nach fünf Monaten Krieg 183 Kirchen oder Kirchengebäude vor allem im Osten und im Süden der Ukraine zerstört beziehungsweise stark beschädigt sind. „Die russische Armee macht keine großen Unterschiede“, sagte Turiy, „alles, was ukrainisch ist, ist durch sie gefährdet: der Staat, die Nation und auch die identitätsstiftenden Kulturobjekte.“

An Turiys Universität wird unter anderem auch zur Rolle der Untergrundkirche in der Sowjetunion geforscht. „Wir haben von allen wichtigen Dokumenten Kopien angefertigt und auch alles vorbereitet, dass wichtige Dinge ins Ausland verbracht werden können“, sagte der Wissenschaftler. „Wir müssen den Aggressor stoppen, anders kann man mit den Russen nicht verhandeln. Deshalb bitten wir auch als Wissenschaftler um militärische Hilfe“, sagte Turiy. (rnd)

KStA abonnieren