Erst die Türkei, dann MarokkoFührt der Klimawandel zu mehr Erdbeben?

Lesezeit 6 Minuten
Ein Mann, der seine Frau und seine Tochter bei dem Erdbeben verloren hat, sitzt in seinem ehemaligen Haus in der Stadt Amizmiz außerhalb von Marrakesch.

Ein Mann, der seine Frau und seine Tochter bei dem Erdbeben verloren hat, sitzt in seinem ehemaligen Haus in der Stadt Amizmiz außerhalb von Marrakesch.

Wird es solche Naturkatastrophen in Zukunft öfter geben, wo sich die Erde durch den Klimawandel immer mehr verändert? Eine Analyse.

Auch mehrere Wochen später herrscht in Marokko noch der Ausnahmezustand. Rund 50.000 Häuser hat das Erdbeben, das Anfang September das Land erschüttert hat, ganz oder teilweise zerstört, schätzungsweise 300.000 Menschen sind nach Angaben der Vereinten Nationen von der Katastrophe betroffen. In den Straßen und Gassen türmen sich die Trümmer. Bis die Häuser und Infrastruktur wieder aufgebaut sind, wird es Monate, wenn nicht sogar Jahre dauern.

Es ist noch gar nicht so lange her, da hat ein ähnlich starkes Erdbeben einen anderen Teil der Welt verwüstet. Im Februar waren im Grenzgebiet zwischen Syrien und der Türkei mehr als 50.000 Menschen ums Leben gekommen, als plötzlich die Erde angefangen hatte zu schwanken. Bis heute leben zahlreiche Menschen in der Region in Notunterkünften wie Zelten und Containern.

Zwei verheerende Erdbeben in einem Jahr – ist das normal? Der Weltklimarat IPCC warnt seit Langem davor, dass Naturkatastrophen zunehmen werden, je weiter der Klimawandel voranschreitet. Damit gemeint sind vor allem Starkregen, Hitzewellen, Dürren, Überschwemmungen – aber auch Erdbeben? Spielt der Klimawandel auch da eine Rolle?

15 schwere Erdbeben pro Jahr

Bei den Erdbeben in Marokko und der Türkei handele es sich um Erdbeben, die in Verwerfungszonen stattgefunden haben, erklärt Heiner Igel, Professor für Geophysik und Seismologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Von einer Verwerfung spricht man, wenn zwei tektonische Platten aneinander vorbeigleiten.

Im Fall von Marokko waren es die Afrikanische und Eurasische Platte, die sich ruckartig gegeneinander bewegten. Die Platten verbogen sich, Spannung entstand, die sich dann in Form des Erdbebens entlud. Auch die Erdbeben in der Türkei haben die beiden Platten hervorgerufen. „All diese Beben sind vom Klimawandel nicht direkt beeinflusst“, stellt Igel klar.

Auch dass es bis jetzt gleich zwei schwere Beben hintereinander gab, ist nicht ungewöhnlich: Erdbeben mit einer Magnitude zwischen sieben und acht, wie in der Türkei gemessen, würden bis zu 15-mal pro Jahr auftreten, erklären die Seismologen Torsten Dahm und Frederik Tilmann auf der Internetseite des Helmholtz-Zentrums Potsdam – Deutsches Geoforschungszentrum GFZ. Moderatere Erdbeben mit einer Stärke von fünf bis sechs ereignen sich weltweit sogar bis zu 1300-mal jährlich.

Gletscherschmelze begünstigt Erdbeben

Es ist also nicht so, dass der Klimawandel jetzt für mehr oder sogar heftigere Erdbeben sorgt. Er sei aktuell kein großer Einflussfaktor, macht Seismologe Igel deutlich. Dennoch: Langfristig könnte die Erderwärmung lokale seismische Aktivitäten verändern.

„Es gibt Regionen, in denen der Klimawandel Einfluss auf die Spannung der Erdkruste hat“, sagt Igel, „nämlich überall dort, wo Eis schmilzt.“ Also in der Antarktis und Grönland zum Beispiel. Dort passiert Folgendes: Wenn die Gletscher schmelzen, nimmt das Gewicht, das auf den darunterliegenden Landmassen lastet, ab. Das verändert die Spannung der Erdkruste.

Unter der äußeren Erdkruste mit ihren sieben großen und mehreren kleinen Erdplatten befindet sich der Erdmantel, eine Schicht aus schwerem, zähflüssigen Gestein. Um bei den Polarregionen zu bleiben: Man kann sich die Erdplatten wie Eisschollen vorstellen, die im Meer – das sinnbildlich für den Erdmantel steht – schwimmen. Drückt nun ein Gewicht von oben auf die Eisschollen, werden sie nach unten gedrückt. Das Gleiche passiert bei den Gletschern, die auf den Landmassen lasten.

Reduziert sich das Gewicht, steigen die Eisschollen langsam auf. Auf die Erdplatten übertragen bedeutet das: Auch sie heben sich an, wenn die Gletscher schmelzen. Solche Landhebungen sieht man zum Beispiel in Skandinavien.

Eiszeit war geprägt von Erdbeben

Dass die Erdplatten aufsteigen, bedeutet noch nicht, dass es dadurch auch vermehrt zu Erdbeben kommt. Die Wahrscheinlichkeit ist aber groß, sobald die Erdkruste erst einmal in Bewegung gerät.

„Wie aus der geologischen Vergangenheit bekannt ist, sind solche Erdbeben nach der letzten Eiszeit auch in ansonsten seismisch wenig aktiven Gebieten wie Skandinavien aufgetreten und haben Magnituden von acht bis neun erreicht“, schrieb Andrea Hampel, Leiterin des Institut für Geologie an der Leibniz-Universität Hannover, vergangenes Jahr im hauseigenen Unimagazin.

Als Beispiel nannte sie die Pärvie-Störung in Skandinavien. Als das skandinavische Eisschild vor ungefähr 10.000 Jahren schmolz, waren die seismischen Aktivitäten, die damals auftraten, so stark, dass sie eine zehn bis 15 Meter hohe Bruchstufe verursachten. Quasi eine Treppenstufe mitten in der Landschaft. Die Auswirkungen dieser Erdbeben sind noch heute zu erkennen.

Starkregen beeinflusst seismische Aktivitäten

Klar ist jedoch: Die Zahl der Erdbeben in den Polarregionen wird nicht schlagartig von heute auf morgen zunehmen. „Das sind Prozesse, die sehr langsam ablaufen“, sagt Igel. „Da reden wir von Jahrzehnten.“

Es gibt noch einen anderen Prozess, hervorgerufen durch den Klimawandel, der Erdbeben begünstigt: Starkregen. „Wir wissen, dass Fluide eine Rolle bei Erdbeben spielen“, so der Seismologe. Fluide ist eine abstrakte Bezeichnung für Gase oder Flüssigkeiten. In Bayern könne man etwa schon jetzt beobachten, dass oberflächennahe Erdbeben entstehen, wenn es viel regnet. Das Wasser dringt dann tief in den Kalkstein der Gebirge ein, wodurch sich der Druck in den Gesteinsporen erhöht. Brüche entstehen und damit Erschütterungen an der Erdoberfläche.

Das Prinzip ist das gleiche wie beim Fracking: Dabei wird Gestein hydraulisch aufgebrochen, also eine Flüssigkeit unter hohem Druck in den Boden gepresst, um Erdgas und Erdöl zu gewinnen. Es entstehen ebenfalls Risse im Gestein, was Erdbeben hervorrufen kann. Seismologinnen und Seismologen sprechen von induzierten Erdbeben.

Wie Vulkanausbrüche und Erdbeben zusammenhängen

Fluide müssen aber nicht nur starke Niederschläge bedeuten. Auch Magma kann Erdbeben verursachen. Bevor ein Vulkan ausbricht, kann es zu einer Erdbebenserie kommen, weil das Magma und Gase im Erdinneren durch schmale Bodenrisse durch den Vulkanschlot aufsteigen. Dabei üben sie einen großen Druck auf die umliegenden Erdschichten aus, das Gestein zerbricht und die entstehenden Risse beginnen zu vibrieren.

Die beiden US-amerikanischen Geowissenschaftler Jamie Farquharson und Falk Amelung prognostizierten im vergangenen Jahr, dass einige Vulkane künftig häufiger ausbrechen könnten – bedingt durch starke Niederschläge. Die Regenmassen machen den Untergrund instabil, Vulkanhänge und Lavadome könnten dadurch kollabieren und Eruptionen verursachen.

„Unsere Ergebnisse deuten darauf hin, dass bei ungebremster globaler Erwärmung die Häufigkeit von primären und sekundären, durch Regenfälle verursachten vulkanischen Aktivitäten [...] an mehr als 700 Vulkanen rund um den Globus zunehmen wird“, schrieben die Forscher in ihrer Studie. Vor allem Eurasien, Ostafrika und die Polarregionen könnten in Zukunft häufiger von Starkregen betroffen sein. Damit könnte in diesen Regionen das Risiko für Vulkanausbrüchen steigen – und folglich auch für Erdbeben.

Der Spannungszustand der Erdkruste wird sich also fortwährend verändern – und weitere Einflussfaktoren wie die klimawandelbedingte Gletscherschmelze, Starkregen oder Vulkanausbrüche werden wohl verstärkt hinzukommen. Dass schon jetzt Erdbeben aufgetreten sind, für die die Erderwärmung verantwortlich gewesen ist, ist Seismologe Igel nicht bekannt. „Es ist aber wahrscheinlich, dass es schon längst passiert ist.“

KStA abonnieren