„Trickkiste des Virus ist zu groß“Warum die Hoffnung auf den Impfstoff trügerisch ist

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Die Hoffnung auf einen Corona-Impfstoff ist groß. Aber ist sie auch berechtigt?

  • Seit dieser Woche werden klinische Studien zur Entwicklung eines Impfstoffes gegen Covid-19 durchgeführt.
  • Wie berechtigt ist die Hoffnung auf einen schnellen Impfstoff? Und: Welche Hürden müssen zu dessen Entwicklung überwunden werden?
  • Wir haben uns zu diesem Thema mit dem Immunologen Martin Krönke unterhalten. Er erklärt, warum die Hoffnung auf einen Impfstoff trügerisch ist.

Köln – Herr Professor Krönke, diese Woche fiel der Startschuss für erste klinische Studien zur Entwicklung eines Corona-Impfstoffs. Wie groß war die Begeisterung bei Ihnen im Institut?

Die Euphorie hielt sich in Grenzen. Das Coronavirus vom Typ Sars-CoV-2 ist nach Sars und Mers-CoV das dritte seiner Art mit erheblicher Mortalitätsrate bei Menschen. Es ist in den vergangenen 18 Jahren nicht gelungen, eine Impfung gegen Sars oder gegen ein anderes Coronavirus zu entwickeln. Außerdem wissen wir von Infektionen mit den weniger gefährlichen Coronavirusarten, die nur milde Erkältungskrankheiten verursachen, dass sich hier nur eine kurzzeitige Immunität von etwa ein bis zwei Jahren einstellt. Man kann also nach etwa zwei Jahren nach einer durchgemachten Coronavirus-Infektion wieder erneut mit demselben Erreger erkranken.

Das klingt schon mal nach keiner günstigen Ausgangslage.

Dreh- und Angelpunkt von wirksamen und lang anhaltenden Impfstoffen bei Virus-Infektionen ist die Ausbildung von Antikörpern, die das Eindringen von Viren in ihre Zielzellen verhindern. Auch bei Sars-CoV-2 sind die Voraussetzungen für diesen Ansatz auf den ersten Blick gegeben. Ganz allgemein verwenden Coronaviren eines ihrer Hüllproteine, das „Spike-“ oder „S-Protein“, um in Wirtszellen einzudringen. Dazu muss sich das S-Protein an einen geeigneten Rezeptor binden, das heißt eine Andockstelle auf der Oberfläche von Zellen. Sars-CoV-2 verwendet hierfür das Protein ACE2. Antikörper gegen das S-Protein sind auch der Ansatz der aktuellen Impfstoffprojekte.

Aber?

Gegenüber allen anderen Coronaviren weist die Erbinformation des Sars-CoV-2 einige bemerkenswerte Besonderheiten auf. Das S-Protein bindet zum einen stärker an ACE2, und es weist außerdem eine Spaltstelle auf, die bis jetzt in verwandten Coronaviren nicht gefunden wurde. Diese führt zu einer besonderen Faltung des S-Proteins und zur Anlagerung von Zuckermolekülen, die zur Maskierung für die Erkennung durch Antikörper beitragen können. Daher ist es zweifelhaft, ob Antikörper gegen das S-Protein die entscheidende Rolle für die Ausbildung einer Immunität spielen. Nicht nett, oder?

Wenn das Virus ein Mensch wäre, müsste man es verdammt clever nennen. Was heißt das jetzt für den Impfstoff?

Wenn es völlig unklar ist, ob Antikörper zur Immunität führen, wird es grundsätzlich kompliziert. Zur spezifischen Immunität gegen Virusinfektionen tragen neben Antikörpern sogenannte zytotoxische T-Zellen bei. Ihre Hauptaufgabe besteht darin, infizierte Körperzellen anhand von Virus-spezifischen Antigenen zu erkennen und zu eliminieren. Damit wird zwar die Vermehrung des Virus im Körper gestoppt, aber es werden auch die infizierten Zellen zerstört. Im günstigsten Fall wird bei Sars-CoV-2-Infektionen das Lungengewebe zwar geschädigt, aber die einsetzende Entzündungsreaktion führt zur Heilung.

Das ist dann doch eine gute Nachricht?

Leider gerät gerade bei älteren Patienten die Regulation einer balancierten Aktivität von T-Zellen und der Entzündungsreaktion außer Kontrolle, was zum tödlichen Verkauf von Covid-19 führt. Sars-CoV-2-Impfungen werden in der Regel auch zytotoxische T-Zellen aktivieren. Damit könnte zumindest eine Teilimmunität erreicht werden. Allerdings lauert hier die Gefahr, dass bei einigen der geimpften Personen – vor allem bei älteren Menschen – schwerere Verläufe von Covid-19 auftreten. Dieses sogenannte „Immune Enhancement“ wurde bereits bei der Impfstoffentwicklung gegen das Dengue-Virus, aber auch bei Sars beobachtet, und es wird als unerwünschte Nebenwirkung gefürchtet. Für die Sicherheit von Corona-Impfstoffen könnte das zu einem richtigen Problem werden.

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Das hört ja gar nicht auf mit den Problemen!

Es gibt zwar durchaus vielversprechende Ansätze, das „Immune Enhancement“-Problem zu minimieren, die aber ein viel tieferes Verständnis von Sars-CoV-2 voraussetzen. Auch die pharmakologische Verhinderung der Kollateralschäden von überschießenden Entzündungsreaktionen würde einen riesigen Fortschritt bedeuten.

Muss man dann im Kampf gegen das Coronavirus anders vorgehen – und vielleicht doch auf ein Medikament setzen statt auf einen Impfstoff?

Was den schnellen Erfolg angeht, sind insbesondere Medikamente hoch im Kurs, die bereits für andere Infektionen wie HIV, Ebola oder Malaria zugelassen und in klinischem Einsatz waren. Einzelbeobachtungen sind allerdings auch hier wenig hilfreich. Immerhin kann man direkt in gut kontrollierte klinische Prüfungen der Phase drei bei Covid-19-Patienten einsteigen und damit relativ zügig wertvolle und verwertbare Ergebnisse erzielen. Es wurden in den letzten Jahrzehnten wurden grandiose neue Technologien hervorgebracht mit spektakulären Erfolgen bei neuen Medikamenten gegen HIV oder Hepatitis C. Die gezielte Wirkstoff-Forschung gegen Sars-CoV-2 wird dauern, aber ich glaube, selbst dann wird sie eher Erfolge zeigen als die erste Generation der etwa 60 Impfstoffprojekte, die aktuell am Start sind. Dafür ist die Kiste der Tricks, mit denen sich dieses Virus dem Immunsystem entzieht, einfach zu groß.

Wenn Sie von Generationen sprechen – an welche Zeiträume denken Sie da?

Dauer und Erfolgsaussichten für die Entwicklung eines Impfstoffes sind vergleichbar mit Christoph Kolumbus und seiner Suche eines Seewegs nach Indien – in dem Moment, als Kolumbus gerade vom Heimathafen in Andalusien abgelegt und das Hafenbecken noch nicht verlassen hatte. Die Herausforderungen stehen der Abenteuerlichkeit dieser Expedition in nichts nach. Immerhin sind zahlreiche und wirklich hervorragende Wissenschaftler am Start, um mit etwa 60 Projekten einen Impfstoff zu entwickeln. Ich möchte deshalb auch gar nicht ausschließen, dass das eine oder andere Projekt erfolgreich verläuft. Die Mainzer Firma Biontec hat einen völlig neuartigen Typ eines Ribonukleinsäure-basierten Impfstoffes gegen Sars-CoV-2 entwickelt und jetzt mit der ersten klinischen Prüfung an gesunden Testpersonen begonnen. Derartige Impfstoffe wurden jedoch noch nie bei einer Infektionskrankheit eingesetzt. Die Erfolgsaussichten sind daher jedoch schwer beurteilbar.

Also: Trauen Sie sich eine zeitliche Prognose zu?

Wenn es gut geht, könnten wir nächstes Jahr einen Impfstoff der ersten Generation haben, der in einer klinischen Phase zwei möglicherweise Wirksamkeit zeigt. Damit sind aber die Fragen nach Dauer der Wirksamkeit und das Problem des schädigenden „Immune Enhancement“ noch nicht gelöst. Dies erfordert eine entsprechend große klinische Phase-drei-Studie, die noch einmal viel Zeit in Anspruch nehmen wird. Auch wenn die Behörden dem Ganzen Priorität hinsichtlich Bearbeitungszeit oder Anforderungen einräumen, gehe ich von mindestens zwei Jahren bis zur Zulassung aus. Und das auch nur, wenn alles gut läuft.

Da Sie kein Virologe sind, müssen Sie sich in den „Streit der Virologen“ nicht einmischen. Aber wie sehen Sie die aktuellen Debatten über Art und Tempo des Exits aus dem Corona-Lockdown?

Dazu muss man eher Epidemiologe als Virologe sein. Die Übertragungswege und die Übertragbarkeit, die „Kontagiosität“, des Virus diktieren das Geschehen und die erforderlichen Maßnahmen. Ich halte die Warnungen der Bundeskanzlerin vor Öffnungsorgien leider für sehr berechtigt. Wir haben uns eventuell zu früh gefreut. Das Beispiel Singapur ist alarmierend. Dort hatte man früh reagiert und die Corona-Epidemie durch Kontakt-Tracing und Isolierungsmaßnahmen gut unter Kontrolle. Nachdem die Zahl der Neu-Infizierten über Wochen im niedrig zweistelligen Bereich geblieben war, schnellten die Infektionszahlen aber auf einmal drastisch in die Höhe, in einem Maß, das uns – übertragen auf Deutschland – sofort wieder an die Grenzen des Gesundheitssystems brächte.

Woran lag das?

Sie haben in Singapur einen kleinen, aber folgenschweren Fehler gemacht: In den Unterkünften junger Gastarbeiter, wo die Hygiene- und Abstandsregeln nicht eingehalten wurden, wurde Sars-CoV-2 importiert, und danach hat sich das Virus fast ungehindert ausbreiten können. Die Arbeiter haben es in die Stadt getragen. Das lehrt uns, dass das Virus keine Fehler verzeiht und die pandemische Situation auch bei uns in Deutschland jederzeit wieder losbrechen kann. Das heißt, die Zahlen von Neuinfektionen können hochschnellen und einen erneuten Lockdown notwendig machen. 

Nun könnte ich Sie mit Erich Kästner fragen: „Herr Krönke, wo bleibt das Positive?“

Das zitierte Gedicht geht bekanntlich weiter: „Ja, weiß der Teufel, wo das bleibt.“ Den Teufel würde ich aber ungern bemühen. Wir sind bislang in Deutschland hervorragend mit dem Virus zurechtgekommen. In der ganzen Welt bewundert man uns dafür. Die beschlossenen Maßnahmen waren effektiv, und sie wurden von den Regierungen im Bund und den Ländern so kommuniziert, dass die Menschen sie befolgt haben. Das ist alles nicht selbstverständlich. Hätte man nur zwei Wochen länger gewartet, hätten uns italienische Verhältnisse gedroht. So ganz weit waren wir davon übrigens nicht entfernt. In vielen Regionen Deutschlands waren die Krankenhäuser so gut wie ausgelastet. Viel Spielraum gab´s da nicht mehr.

Und nun?

Eines ist völlig ausgeschlossen: das Verschwinden des Virus. Auch das zeigt der Fall Singapur. Wir werden mit dem Virus leben müssen, und die Hoffnung auf einen Impfstoff ist trügerisch. Man sollte die Hoffnung darauf nicht aufgeben, aber die zeitlichen Begrenzungen von Ausgangsbeschränkungen nicht mit dem Etikett versehen „bis ein Impfstoff da ist“.

Es kann aber nicht alles so bleiben, wie es jetzt ist. Gibt es eine alltagstaugliche Formel zum „Leben mit dem Virus“?

Das A und O ist es, die Zahl der Neuinfizierten so niedrig zu halten, dass unser Gesundheitssystem mit den Erkrankten und intensiv Behandlungsbedürftigen zurechtkommt. Für die eigentlich entscheidende Kennziffer halte ich aber: Wie viele Patienten müssen im Krankenhaus behandelt werden, wie viele Covid-19-Patienten sind beatmungspflichtig? Und wie entwickelt sich deren Zahl? Damit ist man eher am Puls der Pandemie.

Es kommt also weniger auf die Zahl der Neuinfizierten an und die berühmte „Reproduktionszahl R0“ an, also auf die Frage, wie viele andere ein Infizierter ansteckt?

Auf die Zahl kommt es schon an, und natürlich sollte die Reproduktionszahl tunlichst unter 1 liegen. Aber als statistischen Parameter finde ich sie weniger geeignet, weil es einfach zu viele Variable gibt. Tägliche Schwankungen der Reproduktionszahl sind weder plausibel noch aussagekräftig.

Also: Was tun?

Wir sind in der Experimentierphase. Ich halte es deshalb für keine so schlechte Idee, den Bundesländern gewisse Spielräume zu geben: In einem dünn besiedelten Land wie Mecklenburg-Vorpommern stellt sich die Lage anders dar als in NRW mit seinen Ballungszentren an Rhein und Ruhr. Das Problem ist nur: Bei allem, was Sie tun, wissen Sie erst nach zwei, drei Wochen, ob Sie es richtig oder falsch gemacht haben. Und je mehr sie zur gleichen Zeit tun, desto schwieriger wird die Einschätzung, was davon für die eventuelle Zunahme an Neuinfektionen verantwortlich war. Das wird also ein differenziertes Lavieren mit möglichen Lockerungen werden.

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