60 Jahre MauerbauKölner flüchtete aus der DDR und ließ Familie und Job zurück

Lesezeit 5 Minuten
Neuer Inhalt (2)

Der Komponist und Musiker Herbert Mitschke floh 1988 aus der DDR nach Köln.

Köln – Der Tag des Baubeginns der Berliner Mauer jährt sich zum 27. Mal, als Herbert Mitschke mit zwei Koffern in Sülz auf der Polizeiwache erscheint. Als er sich dort als Flüchtling aus der DDR vorstellt, weiß der diensthabende Polizist erst einmal nicht, was er tun soll. „Der war ratlos. Einen DDR-Bürger auf der Wache hatte er noch nicht erlebt“, erinnert sich der heute 67-Jährige. „Was sollen wir denn mit Ihnen machen?“, sei er gefragt worden.

Kölner nutzte Besuchserlaubnis im Westen zur Flucht

Mitschke nutzte eine zehntägige Besuchserlaubnis zur Flucht in den Westen. Der Komponist Georg Hajdu hatte ihn zuvor durch Köln geführt. Der habe ihn eher mit den üblen Seiten des kapitalistischen Westens abschrecken wollen, glaubt Mitschke. Doch nach einem Besuch in der Musikhochschule, wo man ihm Arbeit angeboten hatte, sei für ihn klar gewesen, nicht mehr in die DDR zurückzukehren. Eine gesicherte Existenz als Theatermacher und Komponist, Freunde, Ehefrau und Familie ließ er zurück, um in Freiheit leben zu können, wie er sagt.

Neuer Inhalt (2)

Das Besuchervisum für zehn Tage in der BRD war die Chance zur Flucht

„Freiheit“ – das war für Mitschke weniger ein politischer oder abstrakter Begriff, eher ein tiefes und sehr konkretes Gefühl, was man wohl nur richtig nachempfinden kann, wenn man in Unfreiheit lebt. Ein Jahr vor der Flucht war er an einer Theaterproduktion in Minden beteiligt, zu der ihn die DDR-Behörden reisen ließen. „Als ich nach einer Woche zurück nach Gera kam, konnte ich nicht mehr arbeiten.“ Er sei in eine Depression gefallen, ihm sei anhaltend schlecht gewesen. „Ich habe freie Menschen gesehen und erlebt, dass man angstfrei miteinander umgehen kann.“

Neuer Inhalt (2)

Herbert Mitschke (r.) als Musiker bei der Figurentheaterinszenierung "Kaspariade" 1983, die vom DDR-Kulturministerium mit Preisen für Regie und Musik bedacht wurde

Mitschke glorifiziert den Westen nicht, aber die Art und Weise, wie das DDR-Regime bis ins Private, bis in die eigene Wohnung hinein ein System der Kontrolle, der Angst und des gegenseitigen Misstrauens etabliert habe, sei für ihn nicht mehr auszuhalten gewesen.

Hinzu kam die „Engstirnigkeit und das Spießertum“ der Gesellschaft im Osten, in der sich so viele hinter Fassaden angepasst hätten. „Ich drehe durch, wenn ich heute bei Querdenker-Demos Leute rufen höre, dass wir in einer Diktatur und in Unfreiheit leben. Die wissen gar nicht, was das ist.“

Zur Person

Herbert Mitschke wurde 1954 in Aue geboren. Er studierte Musik in Dresden, Weimar und nach seiner Flucht auch in Köln, wo er seit 1988 lebt. Seit 1980 arbeitete er in der DDR als Musiker und komponierte und schrieb für Theaterstücke und Puppenspiele. Seit 1983 wurde er von der Stasi beobachtet. Nach seiner Flucht wurde er mit Haftbefehl gesucht. In Köln gründete er ein Studio für Multimediaprojekte. Als Musiker und Komponist arbeitet er mit dem Deutsch-Griechischen Theater und der Else-Laskar-Schüler-Gesellschaft zusammen. Im Karneval war er als „Ein-Mann-Kapelle“ der Brücker „Funken Feinripp“ zu sehen. Mitschke lebt in Dellbrück.

An diesem Freitag, 13. August, jährt sich der Bau der Mauer zum 60. Mal. Als die Sektorengrenze nach West-Berlin 1961 durch DDR-Grenzsoldaten, Mitglieder der „Kampftruppen der Arbeiterklasse“ und Volkspolizisten abgeriegelt wurde, war Mitschke als Siebenjähriger noch zu jung, um sich an etwas zu erinnern. Als Schüler und Jugendlicher gehörte er dann durchaus zu den Privilegierten des Systems.

Als Mitglied des Olympiakaders Geräteturnen genoss er allerlei Vorzüge; später konnte er studieren und sich als Komponist, Musiker und Theatermacher über Preise und Ehrungen freuen. Das Bestreben, als Künstler ohne Druck und Zensur arbeiten zu können, brachte ihn fast zwangsläufig in Konflikte mit den Behörden.

Neuer Inhalt (2)

Herbert Mitschke, hier 1969 am Barren, war Mitglied des Olympiakaders der DDR.

Die Stasi ließ ihn beobachten und „analysierte“ seine Theaterstücke, um „sozialismusfremdes Gedankengut“, „mindere Qualität“ und eine „feindselige Haltung gegenüber notwenigen Schutzmaßnahmen unserer Gesellschaft“ festzustellen. Das hat er nach der Wende in seiner Stasi-Akte lesen können, genau wie Informationen über Bespitzelungen im engsten Umfeld.

Bester Freund als Stasi-Spitzel

Sein bester Freund und Kollege schrieb regelmäßig Berichte für die Stasi. „Das habe ich bis heute nicht verwunden. Schlimmer als der Verrat an mir, ist der Verrat an unserer Idee.“ Man habe doch gemeinsam für Meinungsfreiheit gestritten und für ein Leben ohne Angst vor Bespitzelung und Verfolgung.

Mit dem 60. Jahrestag des Mauerbaus jährt sich in diesem Jahr nicht nur Mitschkes Flucht zum 33. Mal. Der Tag, an dem er die Sülzer Polizeiwache betrat, halbiert auch sein bisheriges Leben: eine Hälfte in der DDR, die andere in Köln.

Mitschke blieb Musik und Theater treu, aber er musste sich zusätzlich eine neue Existenz aufbauen, was ihm im Multimedia-Bereich gelang. Seine zurückgelassene damalige Ehefrau wurde einen Monat vor dem Mauerfall „in Unehren aus der Staatsbürgerschaft der DDR entlassen“ und konnte nachkommen. Zusammen sahen sie im Fernseher, wie ihre ehemaligen Mitbürger gegen das Regime auf die Straße gingen, Reformen und schließlich die Wiedervereinigung forderten.

Was macht ein „gutes Leben" aus?

Mitschkes Rückblick fällt angesichts der „Ostalgie“, die offensichtlich viele in den neuen Bundesländern immer noch verspüren, ernüchternd aus. „Denen war und ist die Freiheit gar nicht so wichtig.“ Hüben wie drüben würden sich zu wenige die Frage stellen, was denn eigentlich ein „gutes Leben“ ausmacht. „Geht es immer nur um Materielles oder auch um andere Werte?“

Das könnte Sie auch interessieren:

Manch aktuelle politische, soziale oder wirtschaftliche Entwicklung sieht er kritisch. Auch wenn in der Pandemie oder nun auch beim Hochwasser immer wieder viel Hilfsbereitschaft zu spüren sei, gehe doch insgesamt die Solidarität verloren.

Die Gruppen, in die sich die Gesellschaft immer mehr aufspalte, würden sich immer schärfer voneinander abgrenzen. Populisten könnten dann die Verunsicherung der Menschen und ihre diffusen Ängste ausnutzen. Wie das funktioniert, weiß er aus der DDR. Auf das gezielt geschürte Misstrauen hätten auch die damaligen Unterdrückungsmechanismen setzen können.

KStA abonnieren