Cold Cases KölnDas tote Mädchen im Gebüsch

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Zwei Bestatter tragen den Leichnam von Seckin Caglar weg. In einer Collage ist daneben ein Fahndungsplakat von 1991 zu sehen.

Bestatter tragen die Leiche von Seckin Caglar weg.

Seckin Caglar ist 16, als sie 1991 abends auf dem Heimweg in Poll ermordet wird. Der Täter entkommt – aber die Polizei kennt seine DNA.

Eine Partie „Mensch ärgere dich nicht“ auf dem Küchentisch. Autokennzeichenraten auf der Rückbank, auf dem Weg in den Türkeiurlaub. Seckin in ihrem weißen Azubi-Kittel im Kaiser’s-Supermarkt in Poll, die ihm eine Capri-Sonne schenkt. Es sind diese Erinnerungen, die Basri Caglar auch heute noch immer wieder einholen, wenn er an Seckin denkt, seine große Schwester.

Die Erinnerungsfetzen sind inzwischen mehr als 30 Jahre alt. Seckin wurde 1991 ermordet. Sie war 16, Basri acht, der Täter ist bis heute nicht gefasst. „Seckin und ich haben uns immer sehr gut verstanden, ich kann mich an keinen einzigen Streit erinnern“, sagt Basri Caglar. „Aber unsere gemeinsame Zeit war leider viel zu kurz.“

Am frühen Abend des 16. Oktober 1991 kommt Seckin mit der Straßenbahn von der Arbeit und steigt an der Haltestelle Poll-Autobahn aus. Dafür gibt es Zeugen.  Nur 600 Meter sind es von der Haltestelle bis nach Hause. Was auf diesem Weg in den nächsten Minuten passiert, ist bis heute ein Rätsel, aber: Es gibt immerhin eine wertvolle Spur. Sie könnte womöglich noch zur Aufklärung des Verbrechens beitragen.

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Ein Porträtfoto der 16 Jahre alten Seckin Caglar

Die 16 Jahre alte Seckin Caglar war Auszubildende in einem Supermarkt.

Kurz vor ihrem Verschwinden, gegen 18.30 an jenem Oktoberabend, wird Seckin Caglar das letzte Mal lebend gesehen. Sie ist Auszubildende im Kaiser’s-Supermarkt an der Siegburger Straße. Wie üblich nach Feierabend will sie mit der Linie 7 nach Hause fahren, die gleich gegenüber an der Salmstraße hält. Bis Poll-Autobahn ist es nur eine Station.

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An diesen alten Fällen arbeitet die Kölner Polizei

Dort warten gegen 18.40 Uhr Seckins Vater und Basri, ihr kleiner Bruder, um sie abzuholen. Auch das ist so etwas wie ein Ritual, sie machen das fast jeden Tag. Eine Bahn hält, aber Seckin steigt nicht aus. Auch mit der nächsten kommt sie nicht. Der Vater wird unruhig. Er bringt Basri nach Hause, kehrt zur Haltestelle zurück, Seckin aber taucht nicht mehr auf. Hat er sie knapp verpasst?

Die Eltern schalten die Polizei ein, die ruft den Filialleiter des Supermarkts an, der das Geschäft noch einmal öffnet. Vielleicht hat die Auszubildende sich versehentlich im Kühlraum eingesperrt? Aber auch im Laden keine Spur von Seckin.

Patenonkel findet die Leiche der Auszubildenden im Gebüsch

Verwandte und Freunde strömen zum Haus der Caglars, um ihnen beizustehen. Es ist jetzt später Abend, ein Mittwoch. Im Fernsehen läuft das Fußball-Länderspiel Deutschland gegen Wales, EM-Qualifikation, Endstand 4:1 – Tore durch Möller, Völler, Riedle und Doll.

Während die Eltern und ihr Besuch aufgeregt und voller Sorge im Wohnzimmer diskutieren, sitzt der kleine Basri still in seinem Zimmer. Auch er ist voller Sorge. Er hört die nervösen Stimmen der Erwachsenen, ahnt, dass etwas Schlimmes im Gange ist, aber niemand kümmert sich um ihn. Im Haus dreht sich alles um seine Schwester. Wo ist Seckin?

Am nächsten Morgen zieht Basris Patenonkel auf eigene Faust los. Er geht den Weg vom Haus bis zur Haltestelle ab, schaut auch in ein Gebüsch nahe der Autobahn 4 und findet dort die Leiche des Mädchens. Seckin wurde sexuell missbraucht und erdrosselt. Der Fundort, so viel steht schnell fest, ist auch der Tatort. Hat der Mörder die Jugendliche in der Bahn beobachtet und ist ihr gefolgt? Oder hat er sie an der Haltestelle abgepasst und ins Gebüsch gezerrt? Darauf gibt es bis heute keine Antworten.

Der Weg von der KVB-Haltestelle zur Siedlung ist von Gebüsch umgeben, darin lag die Leiche von Seckin Caglar.

Der Weg von der KVB-Haltestelle zur Siedlung, im Gebüsch lag die Leiche von Seckin Caglar.

An einem Freitagabend Ende Januar sitzt Basri Caglar an einem Tisch in der Redaktion des „Kölner Stadt-Anzeiger“, die Hände auf der Tischplatte gefaltet. Er kommt gerade von der Arbeit, trägt noch den Pullover des Discounters, bei dem er Marktleiter ist. Er ist bereit, über den Mord an seiner Schwester zu sprechen, über die schlimmen Monate danach und was das Verbrechen in seiner Familie angerichtet hat. Was es bis heute anrichtet. Seine Hoffnung: „Vielleicht melden sich jetzt noch Zeugen, die sich damals nicht getraut haben. Vielleicht hat irgendwer noch den entscheidenden Hinweis für die Polizei.“

Seine Eltern kamen Ende der 70er Jahre mit der drei oder vier Jahre alten Seckin aus dem türkischen Malatya nach Köln, der Vater fand hier eine Anstellung bei Ford. Seckin lernte schnell Deutsch und beherrschte es bald perfekt. Ihre Eltern taten sich schwerer. Auch deshalb kam nach dem Mord 1991 wohl kein Kontakt zu einem Psychologen oder einer Psychologin zustande. „Dabei hätten meine Eltern und ich wahrscheinlich dringend einen gebraucht“, sagt Basri Caglar heute.

Die Tat habe seine Mutter und seinen Vater gebrochen, erzählt er. „Es ging mir sehr schlecht, ich fühlte mich einsam. Zu Hause war nur Trauer.“ Der Achtjährige war nahezu auf sich allein gestellt. Er sah die Schlagzeilen über den Mord an den Zeitungskästen hängen, las die Artikel, sah die Berichte im Fernsehen. „Ich habe mir selbst beigebracht, irgendwie damit zu leben. Ich nehme meinen Eltern das aber nicht übel, sie hatten ja selbst genug Probleme.“

Bestatter tragen die Leiche von Seckin Caglar weg.

Bestatter tragen die Leiche von Seckin Caglar weg.

In der Schule wurde er immer ruhiger, zog sich zurück, fing an zu stottern. Die Lehrer sorgten sich, die Klassenlehrerin suchte das Gespräch mit ihm – auch über Seckin. „Aber ich brach in Tränen aus und konnte nicht weiterreden. Und das war es dann.“ Das Stottern bekam er irgendwann in den Griff, auch das ohne Hilfe.

Mit 14 lernt er den Sohn einer Verwandten kennen, in deren Kiosk er jobbt. „Er war wie ein großer Bruder für mich.“ Endlich hat Basri  jemanden zum Reden. Mit 19 heiratet er. Heute hat Basri Caglar einen 17 Jahre alten Sohn und eine 13-jährige Tochter. Beide wissen, was mit Seckin passiert ist. Und sie verstehen, warum ihr Vater öfter als andere Väter zwischendurch mal anruft oder ihnen schreibt: Wo bist du? Geht es dir gut?

Manche sagen, ich übertreibe. Aber ich möchte das alles nicht noch mal durchmachen, das würde ich nicht schaffen.
Basri Caglar, der Bruder des Opfers

Seine Ehefrau holt Basri Caglar mit dem Auto von der Arbeit ab oder von Treffen mit Freundinnen und Bekannten, wenn es mal später geworden ist. „Manche sagen, ich übertreibe. Aber ich möchte das alles nicht noch mal durchmachen, das würde ich nicht schaffen.“ Umgekehrt wechselt er die Straßenseite, wenn ihm im Dunkeln eine Frau allein entgegen kommt – damit sie keine Angst hat.

Seinem Sohn hat Basari Caglar eingebläut: „Du kannst ein Mädchen ansprechen, wenn es dir gefällt. Aber wenn sie das nicht will, dann lass sie. Werde nicht aufdringlich, das ist nicht richtig.“

Polizei Köln startet Massenspeicheltest in Poll

Die Polizei will den Fall Caglar nun noch einmal neu aufrollen. Sie weiß nicht, wer der Täter ist, aber sie kennt sein DNA-Profil. Es gibt allerdings keinen Treffer in der Datenbank.

Am 18. und am 26. März will die Polizei 355 Männer zum freiwilligen Speicheltest bitten. Sie alle haben 1991 in Poll in der Nähe des Tatorts gewohnt oder gearbeitet oder aus anderen Gründen dort verkehrt. Ihre Namen hat die Polizei in den alten Ermittlungsakten recherchiert.

Im Visier hat die Kripo aber auch eine Frau, die kurz nach dem Mord Briefe mit rätselhaften Nachrichten an die Familie Caglar geschrieben hatte. Darin behauptete sie, den Mörder zu kennen. Und mehr noch: Der Mann, so schrieb sie, hatte es eigentlich auf sie abgesehen, dann aber Seckin überfallen. Stimmt das? Die Frau konnte nie ermittelt werden.

Die Chancen, den Täter noch zu fassen, beziffert Basri Caglar auf 40 Prozent. „Gruselig ist die Vorstellung, dass es vielleicht einer war, den ich kenne. Einer, der vielleicht sogar mal bei uns zu Hause war.“

Für ihn sei der Mann Abschaum. Wie ein Phantom sei der Täter vor mehr als 30 Jahren aufgetaucht, habe seine Schwester ermordet und sei wieder verschwunden. „Er hat das Leben meiner Familie zerstört“, sagt Basri Caglar. „Der Gedanke, dass er noch draußen herumläuft, ist beängstigend.“

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An diesen alten Fällen arbeitet die Kölner Polizei


Der „Kölner Stadt-Anzeiger“ stellt ungelöste Kölner Mordfälle aus den vergangenen 33 Jahren vor. Die Folgen erscheinen samstags und donnerstags in der Zeitung. Online sind die ersten vier Folgen schon jetzt abrufbar unter ksta.de/coldcases. Weitere Folgen erscheinen in den kommenden Wochen.

Zeuginnen und Zeugen, die Angaben zur Tat, zum Täter oder zur Täterin machen können, werden gebeten, sich bei der Polizei Köln zu melden – entweder telefonisch unter 0221/229-0, per E-Mail an poststelle.koeln@polizei.nrw.de oder auf einer Polizeiwache.

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