Interview mit Karl Obermair„Die Pandemie wird zu einer Renaissance des Autos führen“

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Autos fahren unter den Deutz-Mülheimer Brücken in Köln her. (Symbolbild)

  • Seit 2018 befasst sich Karl Obermair beim Tüv Rheinland mit der Zukunft der Mobilität.
  • Wir haben mit dem Experten über alternative Verkehrsmittel, die Auswirkungen der Corona-Pandemie auf den Verkehr sowie Digitalisierung im Verkehr gesprochen.
  • Und warum eine neue Kölner Seilbahn auch einen sozialen Effekt haben könnte.

Herr Obermair, welches Ergebnis der Umfrage des „Kölner Stadt-Anzeiger“ zur Verkehrswende (hier lesen Sie alle Ergebnisse) hat Sie am meisten überrascht? Karl Obermair: Dass 71 Prozent sich eine autofreie Innenstadt vorstellen können, ist schon eine starke Aussage. Das hätte ich so nicht erwartet. Einschränkend muss man natürlich sagen, dass sich unter einer autofreien Innenstadt jeder etwas anderes im Kopf haben kann. Ermutigend finde ich die Zahlen, ob man bereit wäre, vom Auto auf ein anderes Verkehrsmittel umzusteigen. Da gerät etwas in Bewegung. Wir hängen nicht mehr nur am Auto?

Es gibt ein paar Studien, die verschiedene Gruppen von Autofahrern ausgemacht haben. Es gibt eine Gruppe, die vorwiegend aus Männern höheren Alters mit niedrigem Bildungsstand besteht, die eher außerhalb großer Städte wohnen. Die kann und will sich keine Alternative zum Auto vorstellen. Es gibt aber eine zweite Gruppe, die das Auto deutlich flexibler sieht. Und diese Gruppe wächst. Die sagt zwar auch: Ja, wenn es geht, nutze ich das Auto. Aber es muss ein vernetztes Auto sein, das mir mit einer App freie Parkplätze und die besten Wege anzeigt. Diese Gruppe ist jünger und urbaner und dazu bereit, recht schnell auf ein anderes Verkehrsmittel umzusteigen, wenn das Autofahren zu viele Hürden mit sich bringt: Man steht im Stau, findet keinen Parkplatz, zum Beispiel. Wenn das Auto dafür keine intelligenten Lösungen bietet, sind vor allem Frauen schnell auf der Suche nach Alternativen.

Diese Alternativen müssten dann aber auch attraktiv sein.

Genau das ist ein Problem. Es gibt ja einige Verkehrswissenschaftler, die wegen der Corona-Pandemie schon von einer Renaissance des Autos sprechen. Das lässt sich aus den Ergebnissen Ihrer Umfrage auch herauslesen. Vor allem, wenn es um die Kritik am ÖPNV geht. Hygiene war schon immer ein Thema bei Bussen und Bahnen, aber nicht in dieser Prominenz. Da ist durch Corona etwas verrutscht. Wir machen gerade eine deutschlandweite Umfrage, deren Ergebnisse wir im Herbst veröffentlichen. Es geht darum, wie sich das Mobilitätsverhalten durch Corona verändern wird.

Was glauben Sie?

Corona wirkt doppelt. Die Pandemie wird zu einer Renaissance des Autos führen. Aber sie schiebt auch die Digitalisierung an. Autos, die Staus umfahren und freie Parkplätze suchen, die es mir also erlauben, mein Auto auch gegen Widrigkeiten zu nutzen, werden durch Corona einen Schub bekommen.

Wenn das so kommt, können Großstädte wie Köln die Verkehrswende wohl vergessen, oder?

Ich stolpere immer über das Wort. Verkehrswende ist ein sehr dramatischer Begriff.

Warum?

Weil das wichtigste Thema dabei vergessen wird.

Das da wäre?

Die Kapazität. Wir können stundenlang darüber diskutieren, ob wir lieber Fahrrad fahren, zu Fuß gehen oder den ÖPNV in der Stadt bevorzugen. Aber haben wir für eine Wahl überhaupt die Infrastruktur? Das ist keine Frage von Ideologie. Wenn wir keinen ausreichenden Platz für Fahrradfahrer haben, müssen wir den erst schaffen. Das gilt auch für den öffentlichen Nahverkehr im Hochleistungssegment, also für Stadtbahnen und U-Bahnen. Wie sieht die Verkehrsbelastung einer Stadt im zeitlichen Verlauf über den Tag aus? Welche Ergänzungen wären sinnvoll? Diese Diskussion kommt oft zu kurz. Wenn es keine Kapazitäten gibt, ist der Handlungsspielraum sehr eingeschränkt.

Zur Person Karl Obermair

Karl Obermair befasst sich beim Tüv Rheinland seit 2018 mit der Zukunft der Mobilität – ein Thema, das ihn schon seit Anfang der 1990er Jahre begleitet. Der gebürtige Wiener war von 1991 bis 2002 beim Österreichischen Automobilclub, wechselte 2002 zum ADAC nach München und war dort zuletzt Vorsitzender der Geschäftsführung. Vor seinem Wechsel zum Tüv Rheinland war er als Senior Advisor bei A.T. Kearney München, einer internationalen Strategieberatung, für das Thema Mobilität verantwortlich.

Auch wenn der Straßenraum knapp ist, ließe er sich neu verteilen. Mehr Platz für Fahrräder und die Autos vergrämen. Was halten Sie von dieser Methode?

Das Vergrämen der einen zugunsten der anderen Gruppe ist in der Verkehrspolitik seit vielen Jahren ein bekanntes Spiel. Es bringt aber nichts. Letztlich muss ich immer einen Interessenausgleich schaffen. Wenn ich das nicht mache, bekomme ich Probleme. Das hat das Beispiel der E-Scooter gerade wieder gezeigt. Da kommt plötzlich ein neuer Player ins Spiel. Die Fläche bleibt aber begrenzt. Und was passiert? Die Komplexität mit jedem Konfliktteilnehmer steigt exponentiell.

Das kann man jeden Tag am Kölner Rheinufer beobachten.

Ich habe bis vor kurzem in der Richmodstraße gewohnt. Also im Superzentrum der Stadt. Da konnte ich die Konflikte erleben. Fußgänger, die mit Regenschirmen ohne erkennbaren Anlass auf SUV-Fahrer einschlagen. Scooter-Fahrer, die sich mit Fußgängern kabbeln und handgreiflich werden. Das Problem ist der begrenzte Raum, der in der Nutzung nicht klar strukturiert ist. Dazu kommt sehr viel Unwissenheit über die Verkehrsregeln oder eine entsprechende Ignoranz. Und das bei einem völlig neuen Player, der mit der Geschwindigkeit eines Radfahrers unterwegs ist, aber nicht mit der gleichen Stabilität. Dann sind da manchmal zwei Menschen auf einem E-Scooter unterwegs. Die Dinger sind geräuschlos, man hört sie also gar nicht kommen. Natürlich muss man die Verkehrswende in Innenstädten vorantreiben. Aber das muss intelligent geschehen. Gute Beispiele sind Wien oder Paris.

Wie schaffen diese Städte das?

Durch ein besseres Bedarfsmanagement ist es dort gelungen, das Angebot für Radfahrer signifikant zu verbessern. Mit intelligenten Verkehrssteuerungen und digitalen verkehrsabhängigen Lösungen hat man den Umschwung so abgefedert, dass man eine Straße nicht radikal zurückbauen musste. Den Konflikt wird man nie ganz verhindern können. Letztlich muss immer eine Entscheidung getroffen werden. Dass wir in den Städten mehr Radfahrer und Fußgänger haben wollen und deshalb den Platz für Autos reduzieren müssen, steht außer Frage. Das ist ein Umwelt-, ein Sicherheits- und vor allem ein Platzthema. Die Überfrachtung der Straßen ist das größte Problem.

Da hat Köln ganz schlechte Voraussetzungen.

Das stimmt. Aber die Digitalisierung kann helfen. In Singapur beispielsweise hat man eine Pendler-App eingeführt, über die alle Verkehrsträger vernetzt sind. Da käme heute kein Mensch mehr auf die Idee zu sagen: Ich bin Radfahrer, also nehme ich das Rad. Ich bin Autofahrer, also nehme ich das Auto. Ich habe eine Dauerkarte, also nehme ich die Bahn.

Sondern?

In Singapur checkt man zunächst auf der App die Verkehrslage und entscheidet, wenn man für alle Verkehrsmittel alle Informationen über Auslastung, Geschwindigkeiten, Fahrzeiten, Taktzeiten, Angebote, Dauer und Verzögerung in Echtzeit beisammen hat. Wir sprechen von einer intermodalen Mobilitätsplattform.

Was bringt das?

Sehr viel. Ein erster Ratschlag für Köln wäre, die Digitalisierung und das Zusammenspiel der Verkehrsträger so zu verbessern, dass Menschen eine optimierte Verkehrsmittelwahl vornehmen können. Das setzt voraus, dass der Nutzer bis zu einem gewissen Grad flexibel ist. Der zweite Punkt: Die Menschen haben ein durchgehendes und immer wiederkehrendes Mobilitätsbedürfnis. Das muss möglichst nervenschonend, zeitnah und sicher befriedigt werden. Also müssen Zugang, Buchen und Bezahlen einfach sein. Nur so können sich die Menschen vernünftig entscheiden.

Und wenn die Entscheidung einmal gefallen ist, bleiben die Leute hier dann auch dabei?

Nein. Die beiden Lager, Autofahrer und Nutzer des öffentlichen Nahverkehrs, ticken im Grunde gleich. Unter ihn gibt es viele, die lieber heute als morgen umsteigen würden, vom Auto auf die Bahn und umgekehrt. Die Gruppen sind etwa gleich groß. Da muss nur ein Hindernis aus dem Weg geräumt werden – und schon laufen sie zur anderen Seite über. Beim Auto ist das Hindernis, dass es sich viele nicht leisten können. Das sind die sogenannten Captive Riders, also im Grunde Zwangsbeglückte, die der Bahn den Rücken kehren würden, wenn es irgendwie machbar wäre.

Und umgekehrt?

Bei der Bahn sind es die komplizierten Tarife, die Verbundgrenzen und alles, was damit zusammenhängt, die den Autofahrern das Umsteigen verleiden. Es gibt also jede Menge Service-Nachteile. Dabei ist die grundsätzliche Bereitschaft da. Die Vorstellung, man müsse das Autofahren nur unbequem genug machen und dann werden die Leute irgendwann in den öffentlichen Nahverkehr geschoben, ist völlig abwegig. Wir wollen doch etwas anderes.

Was denn?

Wir wollen Menschen, die aus rationalen Überlegungen, weil es schnell, sicher, bequem und umweltverträglich ist, die jeweils beste Wahl für sich treffen. Das mag für einen 70-Jährigen ein anderes Verkehrsmittel sein als für einen 16-Jährigen. Aber niemand sollte die Entscheidung aus Gewohnheit, Trotz, Zwang oder Angst fällen müssen. Oder weil es einfach keine Alternative gibt. Sondern aus der Überzeugung heraus, dass man für sich und sein Bedürfnis die richtige Wahl getroffen hat.

Dann müsste die gesamte Mobilitätskette aber auch über die App buchbar sein und abgerechnet werden.

Absolut. Und nicht nur das. Idealerweise werden alle Fahrzeuge auch schon vorab reserviert. Wer das entwickelt, hat verstanden, dass jedes Fahrzeug ein digitales Tool ist und die Nutzung ohne eine App gar keinen Sinn mehr ergibt. Wenn man beispielsweise von Köln nach München fahren möchte und ein Elektroauto nutzt, plant die App automatisch ein, wo es an der Autobahn Schnellladestationen gibt und wann man voraussichtlich am Rastplatz ankommen wird. Und dann reserviert die App die Ladesäule zu dieser Zeit. Solche Serviceleistungen müssen verkehrsmittelübergreifend funktionieren. Mit Auslastungsgraden, mit Übergangszeiten und mit Alternativen, wenn die Mobilitätskette unterbrochen wird. Durch einen Stau zum Beispiel. Nutzer wollen mit einem Gerät – nämlich ihrem Mobiltelefon – planen, buchen, reservieren, umdisponieren und zahlen.

Wie lange sollen wir darauf warten? In Köln sind ja nicht mal Leihräder verschiedener Anbieter vernetzt.

Singapur mag uns noch als ein Science-Fiction-Beispiel vorkommen. Aber das wird kommen. Und dann haben wir auch eine digitale Datengrundlage, die Verkehrsströme, den Bedarf oder die typischen Verhaltensmuster bei plötzlich einsetzendem Starkregen berücksichtigt. Und natürlich auch alle anderen Faktoren, die den Verkehr beeinflussen. Ob gerade Schulzeit ist oder Ferien sind zum Beispiel. So lässt sich der Verkehr intelligent steuern ohne die Infrastruktur gleich großartig ausbauen zu müssen.

Aber ganz ohne Ausbau wird es in einer wachsenden Stadt nicht gehen.

Das stimmt. Beispiele aus anderen Großstädten wie London oder Sao Paulo zeigen, dass leistungsfähige Seilbahnen eine Alternative sein können. Die muss ja nicht direkt neben dem Weltkulturerbe Kölner Dom stehen. Seilbahnen können sogar soziale Effekte haben, weil ich bestimmte Stadtteile mit schlechter Infrastruktur einfach deutlich besser und vor allem mit überschaubaren Investitionen anbinden kann.

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