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Interview

Hexenverfolgung
„Früher wurden sie verbrannt, heute wird mit glühenden Messern gefoltert“

5 min
Die Schweizer Ordensschwester setzt sich im Ausland für Frauen ein, die als vermeintliche Hexen verfolgt werden.

Die 75-jährige Ordensschwester Jenal lebt seit 1979 im Hochland von Papua-Neuginea.

Lorena Jenal setzt sich im Ausland für Frauen ein, die als vermeintliche Hexen verfolgt werden. Kölns OB Reker empfing die Ordensschwester.

Anlässlich des Internationalen Tags gegen Hexenwahn, den das katholische Hilfswerk „Missio Aachen“ jährlich am 10. August begeht, hat die Kölner Oberbürgermeisterin Henriette Reker am Donnerstag die Schweizer Ordensschwester Lorena Jenal von der Gemeinschaft der Baldegger Franziskanerinnen empfangen.

Die 75-Jährige lebt seit 1979 im Hochland von Papua-Neuginea, wo sie sich als Projektpartnerin von „Missio Aachen“ für Frauen einsetzt, die als vermeintliche Hexen verfolgt werden. Nach Angeben des Hilfswerks hat es in den letzten sechs Jahren mit rund 660 000 Euro Projekte gegen Hexenwahn gefördert, die insgesamt über 3300 Betroffenen geholfen haben.

Schwester Lorena, Sie haben Oberbürgermeisterin Reker zwei große Bilder geschenkt. Was hat es damit auf sich?

Alles zum Thema Henriette Reker

Schwester Lorena: Auf einem bin ich mit Christina Pakuma zu sehen. Christina wurde auf dem Dorfplatz gefesselt, ausgezogen und mit glühenden Eisen vergewaltigt. Mit einem Trick hat sie es geschafft zu entkommen: Als sie in einer Hütte eingesperrt war, hat sie sich einen Stein zwischen die Beine geschoben und zu den Leuten, die sie bewachten, gesagt: Ich gebäre eine Hexe. Die Leute haben es geglaubt, den blutigen Stein genommen, sind nach draußen gelaufen und haben gerufen: Wir haben die Hexe. Dann ist Christina geflohen und zu uns Ordensschwestern gekommen. Ich habe sie betreut. Der Internationale Tag gegen Hexenwahn geht auf den 10. August 2012 zurück, als Christina die Folterer ausgetrickst hat.

Oberbürgermeisterin Reker trifft Schwester Lorena anlässlich des Internationalen Tags gegen Hexenwahn und ehrt ihr Engagement für verfolgte Frauen.

Oberbürgermeisterin Reker traf Schwester Lorena anlässlich des Internationalen Tags gegen Hexenwahn und ehrte ihr Engagement für verfolgte Frauen.

Und das andere Bild?

Es ist ein mit Künstlicher Intelligenz hergestelltes Foto, das Katharina Henot zeigt. Sie ist das bekannteste Opfer der Hexenverfolgung in Köln. 1627 wurde sie hingerichtet. 2012 hat der Kölner Stadtrat beschlossen, sie und weitere Frauen, die zum Tod verurteilt worden waren, zu rehabilitieren. Am Rathausturm gibt es eine Skulptur von ihr.

Sie leben seit über 45 Jahren in Papua-Neuguinea. Hatten sie von Anfang an mit Hexenverfolgungen zu tun?

Nein, in den ersten Jahrzehnten gar nicht. In den Gemeinden im südlichen Hochland haben wir mit Familien gearbeitet. Oft ging es um Eheprobleme. Frauen, die unter Gewalt leiden, müssen lernen, sich selbst zu helfen und ihre Kinder zu schützen. Christinas Fall war der erste, der uns mit dem Problem der Hexenverfolgung konfrontiert hat.

2017 ist Jörg Nowak von Missio Aachen mit der Kölner Fotografin Bettina Flitner nach Papua-Neuguinea gereist, um die Gewalt gegen Frauen zu dokumentieren. Die beiden gerieten sogar in einen Hexenprozess und waren dabei, als sie die gefolterte und schwerverletzte Teno in die Krankenstation brachten. Die Fotoreportage löste ein großes Echo in den Medien aus. Wie ging es weiter?

2020 hat Missio Aachen den Internationalen Tag gegen Hexenwahn ins Leben gerufen, und 2021 hat in Papua-Neuguinea mit finanzieller Unterstützung des Hilfswerks unser House of Hope eröffnet. In dem Schutzraum, der 20 Plätze hat und in einem sicheren Gebiet liegt, bieten wir medizinische und psychologische Betreuung für verfolgte Frauen an. Bisher konnten mein Team, zu dem zwei Selbstbetroffene gehören, und ich 352 Frauen retten. Vielleicht doppelt so viele sind gestorben.

Was wird ihnen angetan?

Früher hat man sie meist auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Heute zieht man sie splitternackt aus und fesselt sie mit verbundenen Augen an zwei Pfähle gefesselt. Dann werden sie mit glühenden Buschmessern oder Stangen gefoltert. Dabei konzentriert man sich auf die Brüste und die Scheide. Drum herum stehen Hunderte Leute und schauen zu, auch Kinder.

Missio Aachen geht davon aus, dass mittlerweile in 46 Ländern Frauen, Kinder und ältere Menschen als Hexen stigmatisiert werden und Gewalt erfahren. Wer wird zum Opfer des Wahns?

Das kann jedem passieren. Man sucht einen Sündenbock, zum Beispiel wenn jemand bei einem Unfall stirbt oder durch eine Krankheit. Es kann aber auch bei einem Familienstreit vorkommen wie bei Stella, der Lieblingstochter eines Häuptlings. Weil er ihr ein besonders schönes Stück Land geschenkt hatte, erklärten die eifersüchtigen Brüder sie zur Hexe. Sie hat es überlebt. In den letzten Monaten ist es so schlimm wie nie geworden. Die Weltlage macht den Menschen Angst, auf dem Handy sehen sie Hinrichtungsvideos und Gewaltpornografie, dazu kommen Alkohol, Drogen und Arbeitslosigkeit. Der Klimawandel hat viele Überschwemmungen mit sich gebracht, wie es sie früher nicht gab.

Wie können Sie Opfern helfen?

Die Frauen kommen erst mal in ein Spital. Danach kümmern wir uns im House of Hope um sie, medizinisch, psychologisch, emotional. Wichtig ist, dass sie alle Wut und allen Schmerz herauslassen, ungehemmt weinen und schreien können. Die Kinder der Frauen, die wir auch zu uns nehmen, halten wir in dieser Phase von ihnen fern. Nach ein paar Tagen holen wir den Mann, der vielleicht mit dem Gemeindeleiter oder jemandem vom Dorfgericht kommt. Wir versuchen, alle wichtige Personen einzubinden, um ihnen zu zeigen: Diese Frau ist unschuldig. Außerdem gehen wir in Schulen, um die Kinder aufzuklären, damit die nächste Generation das Problem nicht mehr hat.

Wo lange wollen Sie sich in Papua-Neuguinea weiter engagieren?

Solange ich kann. Mit meinem freien Geist könne ich mir ein Leben im Kloster nicht mehr vorstellen. Manche Männer verlieben sich in Frauen, manche Frauen in Männer, und ich habe mich in die Menschen des südlichen Hochlands von Papua-Neuguinea verliebt. Es ist meine Wahlheimat geworden.

www.missio-hilft.de/hexenwahn