Kölner Infektiologe„Geschehen kann wegen Corona-Mutationen außer Kontrolle geraten“

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Köln schlägt bei der Überprüfung der Virusvarianten einen konsequenteren Weg ein.

Köln – Die Corona-Zahlen sinken deutschlandweit langsamer als erhofft. Fast zwei Monate nach Beginn des zweiten harten Lockdowns wurde das Ziel, eine deutschlandweite Sieben-Tage-Inzidenz von unter 50, nicht erreicht. Auch in Köln nicht. Dennoch zeigen die Maßnahmen Erfolg: Vom Höchststand einer Inzidenz von 198 ist die Zahl inzwischen auf 62 gesunken. Doch das ursprüngliche Ziel reicht Bund und Ländern nicht mehr. Die Sorge vor den Mutationen, die sich schneller verbreiten, ist zu groß. In den Blick gefasst wird nun eine Inzidenz von unter 35 – geknüpft an einen R-Wert von höchstens 0,7.

Die Mutationen

Köln prüft jeden positiven PCR-Test auf Mutationen – weiterhin als einzige Stadt des Landes. „Es gibt keine deutsche Stadt, die besser über die Verbreitung der Mutationen Bescheid weiß“, sagt Professor Gerd Fätkenheuer, Leiter der Infektiologie an der Uniklinik Köln. Nach Angaben von Gerhard Wiesmüller, dem stellvertretenden Leiter des Kölner Gesundheitsamts, seien stadtweit insgesamt rund 17 Prozent aller positiven PCR-Tests auf die mutierten Virusvarianten zurückzuführen – davon 80 Prozent auf die britische und 20 Prozent auf die südafrikanische Variante.

Aktuell sind in Köln 117 Personen mit der südafrikanischen und 286 Personen mit der britischen Virusvariante infiziert. Bei letzterer gelten wie bei der ursprünglichen Variante überwiegend soziale Kontakte als Hauptinfektionsquelle: Insgesamt 51 Prozent der infizierten Personen haben sich in diesem Rahmen angesteckt, davon allein 36 Prozent im eigenen Haushalt. Die Infektionszahlen, die sich durch die britische Variante ergeben, „erinnern mich ein kleines bisschen an die Entwicklung in der ersten Phase der Pandemie“, sagt Wiesmüller. Man könne daraus vorsichtig schließen, dass „diese Variante zunehmen wird und die ursprüngliche Variante auch verdrängen könnte“, so Wiesmüller weiter.

Alles zum Thema Henriette Reker

Auch Gerd Fätkenheuer befürchtet: „Wenn wir das gegenwärtige Niveau der Neuinfektionen halten, kann das Geschehen wegen der Mutationen im Frühjahr außer Kontrolle geraten.“ Deswegen müsse man alles tun, um die Zahlen weiter zu senken. Eine abschließende Beurteilung der neuen Varianten gibt es bislang nicht – „weder zur Verbreitung, noch zur Sterblichkeit“, sagt der Infektiologe. Aber: „Alle Daten, die wir heute haben, legen nahe, dass zumindest die Verbreitung deutlich schneller ist.“ Deutschland sei aktuell in einer „unsicheren Situation, mir scheint daher der Weg, die Gefahr sehr ernst zu nehmen, aktuell deutlich besser“.

Denn auch weitere Varianten könnten hinzukommen. „Wir können sicher sagen, dass das Virus weiter mutieren wird“, so Fätkenheuer: „Wie sich künftige Mutationen auswirken, lässt sich nicht prognostizieren. Es gilt das Zufallsprinzip. Es kann gefährlicher oder harmloser werden.“ Man wisse aber, dass eine hohe Viruslast in der Bevölkerung zu mehr Mutationen führe.

Die politische Strategie

Die NRW-Landesregierung hatte den einzelnen Kommunen zum Ziel gesetzt, bis kommenden Montag eine Inzidenz von unter 50 zu erreichen. „Es ist schlimm, dass wir das in Köln nicht geschafft haben“, sagt Reker. Sie sei Anhängerin der „NoCovid“-Strategie, deswegen „meine ich, wir müssten eigentlich auf eine Inzidenz von zehn kommen“.

Auch Gerd Fätkenheuer sieht den Wert 50 kritisch. „Das war vor wenigen Monaten noch die absolute Höchstgrenze, die wir tolerieren wollten“, sagt er. Zwar sei die Sieben-Tage-Inzidenz von 35, die bei der Ministerpräsidentenkonferenz ins Auge gefasst wurde, „auf jeden Fall schon ein besserer Wert“. Doch Fätkenheuer fürchtet, dass dieser nicht reichen werde. Man müsse jede Infektionskette sofort unterbrechen, um einen weiteren, vermutlich noch härteren Lockdown zu vermeiden. Er plädiert deshalb ebenfalls für eine Ziel-Inzidenz von zehn.

Geht es nach Matthias Schrappe, Professor an der Universität zu Köln, Mediziner und langjähriger Berater der Bundesregierung in Gesundheitsfragen, ist der Blick auf die Inzidenz als wesentliches Kriterium falsch. „Natürlich bin auch ich dafür, einen Grenzwert von null zu erreichen. Ich halte es bloß für utopisch“, sagt Schrappe. Der Lockdown sei „unser einziges Standbein. Falsch ist nicht der Lockdown an sich, sondern das alleinige Verwenden dieses Mittels.“ Dadurch werde ein dauerhafter Lockdown alternativlos. Schrappe plädiert für einen besseren Schutz der älteren Gruppen – in Pflegeheimen, aber auch in der „ambulanten Pflege und bei Alleinstehenden“. Mit mehr Tests, Masken und ganzheitlichen Konzepten, die Infektionen so gut es geht verhindern.

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„Die meisten Infektionen gibt es in der Gruppe der Über-80-Jährigen. Seit Beginn des zweiten Lockdowns nimmt die Sterblichkeit der Älteren zu“, sagt Schrappe. Daten des Robert-Koch-Instituts entsprechen dieser Aussage. Auch könne die Sieben-Tage-Inzidenz nicht „vernünftig gemessen werden“, was sie als alles entscheidenden Richtwert disqualifiziere, so Schrappe. Dem widerspricht Fätkenheuer: Es gebe zwar viele unerkannte Infektionen, mit gut einer Million Tests pro Woche „sind wir in dieser Hinsicht aber gut aufgestellt.“ Die Werte seien im Zeitverlauf gut vergleichbar.

Die Lage in Köln

Die Kölner Inzidenz lag lange unter dem bundesweiten Schnitt. Inzwischen stagniert die Zahl in der Stadt mit Schwankungen, während sie bundesweit langsam, aber stabil sinkt. Aktuell verzeichnet Köln eine Sieben-Tage-Inzidenz von 69,4. Aus Sicht von Fätkenheuer sind private Treffen der wesentliche Grund. Auch Oberbürgermeisterin Henriette Reker appellierte bei einer Pressekonferenz am Freitag an die Kölner, weiterhin durchzuhalten und sich an die vorgegebenen Corona-Regeln zu halten. „Je mehr Leute sich jetzt an die aktuellen Maßnahmen halten, desto früher können wir Lockerungen umsetzen. Das ist unmittelbar miteinander verknüpft“, so Reker.

Dem stimmt Gerd Fätkenheuer zu: Wenn man zum jetzigen Zeitpunkt bei hoher Infektionslast lockere, müsse man kurz darauf wieder verschärfen – „der Preis dafür ist dann ungleich höher“. Denn die Maßnahmen wirken sich immer zeitverzögert auf die Infektionszahlen aus, „da ein oder sogar bis zu zwei Wochen vergehen, bis die infizierten Personen Symptome entwickeln und die Infektion dann entdeckt wird“, so Fätkenheuer. „Die Infektionslast von heute kennen wir also immer nur ungefähr – deswegen müssen wir vorausschauend agieren.“

Der Sonderweg der Stadt

Zur Eindämmung des Virus hat Köln inzwischen Maßnahmen beschlossen, die über die Vorgaben des Landes hinausgehen. So sind auch im Privaten nur noch Treffen eines Haushaltes mit einer weiteren Person erlaubt – eine Reaktion auf die vielen Infektionen in den eigenen vier Wänden. Zudem sind Schnelltests überall dort Pflicht, wo berufliche Treffen von fünf oder mehr Personen nicht zu vermeiden sind. „Das ist sinnvoll“, sagt Fätkenheuer, doch „eine Zulassung von Selbsttests würde den Effekt noch verbessern“. Wichtig sei, dass der Schnelltest am Tag des Treffens selbst gemacht und bei einem erneuten Treffen wiederholt werde.

Als Leiter des bundesweiten Forschungsprojekts „B-Fast“ gilt Fätkenheuer als führender Forscher beim Thema Corona-Testungen. Zwar könne man mit Schnelltests „nicht alle Infektionen erkennen, doch die Menschen, die hochinfektiös sind, werden ziemlich zuverlässig erkannt. Diese Möglichkeit nutzen wir noch nicht gut genug.“ In Köln soll sich dies nun ändern.

Corona-Impfungen

Seit vergangenem Montag ist das Impfzentrum in Halle 4 der Messe geöffnet – 2340 Kölnerinnen und Kölner haben dort seitdem ihre Erstimpfung erhalten. Vergleichsweise wenig, schließlich ist die Logistik des Zentrums so ausgelegt, dass bis zu 5000 Menschen pro Tag geimpft werden könnten. Das soll auch passieren, sobald die Hersteller ihre Liefermengen erhöhen, betont Christian Miller, Leiter der Kölner Berufsfeuerwehr.

Ein wichtiger Schritt, denn „solange nur ein kleiner Teil, sagen wir weniger als 30 Prozent, geimpft ist, geben wir dem Virus die Chance, sich an die Impfungen anzupassen und dagegen resistent zu werden“, sagt Fätkenheuer. Auch deshalb müsse die die Viruslast in der Bevölkerung möglichst gering gehalten werden. „Mit großen Lockerungen würden wir den Impferfolg gefährden – und die Pandemie in die Länge ziehen“, so Fätkenheuer. „Das wäre ein Katastrophenszenario. Aber wir können es heute noch gut verhindern.“

Impfstoff des Herstellers AstraZeneca

Dabei spiele auch der Impfstoff des Herstellers AstraZeneca eine wichtige Rolle. „Wir brauchen jeden Impfstoff, den wir haben, um dieses Virus zu besiegen“, so Fätkenheuer. Sorge davor, dass das AstraZeneca-Vakzin weniger wirksam sei als das von Biontech und Pfizer, müsse man sich nicht machen. „Schaut man auf die wirklich relevanten Ergebnisse wie schwere Erkrankungen und Todesfälle, dann ist der Impfstoff genauso wirksam wie die anderen Mittel. Alle Impfstoffe, die heute zugelassen sind, wirken derzeit gut und sollten unbedingt genutzt werden“, sagt Fätkenheuer.

Es spreche vieles dafür, dass „wir bis nach dem Sommer genügend Impfstoff haben werden“. Dass jeder bis Ende September ein Impfangebot bekommt, halte Fätkenheuer für durchaus realistisch. „Die große Herausforderung ist die Logistik – und hier ist der Impfstoff von AstraZeneca wieder entscheidend. Dieses Mittel lässt sich ohne Probleme in Arztpraxen anwenden“, so der Mediziner. Ein großer Vorteil, der die Impfungen in den kommenden Monaten massiv beschleunigen könne.  

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