30 Jahre FrauenberatungAgisra Einst von der Stadt Köln angezeigt, heute ein wichtiger Partner

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Historisches Bild einer Protestaktion der Frauenberatungsstelle Agisra

Protestaktion in den Gründerjahren

Die Kölner Frauenberatungsstelle Agisra wird 30 – und zieht nach Ehrenfeld um. Rückblick auf eine bewegte Geschichte.

Als die Frauenberatungsstelle Agisra 1993 ihre Arbeit in Köln aufnahm, stand Vergewaltigung in der Ehe in Deutschland noch nicht unter Strafe. Behshid Najafi und drei Mitgründerinnen arbeiteten in einem engen Büroraum zwischen Hauptbahnhof und Ebertplatz, den sie sich mit drei anderen Frauenvereinen teilten. Zum 1. Juli 2023 zieht Agisra – pünktlich zum 30-jährigen Bestehen – vom Salierring an die Venloer Straße 415 nach Ehrenfeld. Zwölf Beratungsräume und 600 Quadratmeter Fläche werden den Mitarbeiterinnen dort zur Verfügung stehen.

Zwölf Beraterinnen arbeiten heute hauptberuflich für Agisra, viele weitere, auch zahlreiche Dolmetscherinnen, nebenberuflich. Behshid Najafi hat bei Integrationsgipfeln mit der damaligen Kanzlerin Angela Merkel über Rassismus und Sexismus gegenüber geflüchteten Frauen gesprochen, sie war bei der Weltfrauenkonferenz in New York und bei der Weltkonferenz gegen Rassismus in Südafrika. Agisra stellt eine Expertin für den Bund-Länder-Ausschuss zum Thema Menschenhandel. Längst ist der Verein ist international vernetzt und eine gewichtige Stimme bei nationalen Zuwanderungs- und Gewaltschutzgesetzen.

Behshid Najafi und Shewa Sium

Frauenberatungsstelle Agisra: Behshid Najafi (l.) und Shewa Sium

„Unser Anliegen ist in all den Jahren gleichgeblieben: Wir sind eine Anlaufstelle für Frauen in Not – und kritisieren patriarchalische Strukturen, Sexismus, Rassismus und besondere Notlagen von Frauen“, sagt die Pädagogin, Politologin und Menschenrechtlerin Behshid Najafi. Shewa Sium, die seit 2001 für Agisra arbeitet, ergänzt: „Unser Anliegen ist die soziale und rechtliche Gleichstellung von Migratinnen.“

Sie nähmen in Kauf, gelegentlich auch selbst für ihre Arbeit kritisiert zu werden, sagen Sium und Najafi. „Was kann uns passieren? Das Schlimmste wäre, wir verlieren Fördermittel und unsere Jobs. Anders als für Frauen, die im Iran auf die Straße gehen, die Opfer von sexueller Gewalt und Menschenhandel werden, steht aber nicht unser Leben auf dem Spiel.“

Ausländeramt zeigte Agisra wegen Beihilfe zu illegalem Aufenthalt an

Vor 20 Jahren habe die Kölner Ausländerbehörde Agisra wegen „Beihilfe zu illegalem Aufenthalt“ angezeigt, weil der Verein ein 16-jähriges Mädchen aus Uganda unterstützte, die abgeschoben werden sollte. Acht Jahre später stellte die Stadt Köln Agisra Fördermittel für die Beratung von Frauen ohne Papiere zur Verfügung. Schon seit den Anfängen arbeitet der Verein mit dem Gesundheitsamt zusammen, ermöglicht Frauen ohne Aufenthalt und Versicherung medizinische Versorgung und Beratung.

Trotz zahlreicher Widerstände – wegfallenden Förderungen, Umzügen, Kritik an der Unterstützung für Menschen ohne Aufenthaltstitel – ist Agisra zu einer Instanz geworden, deren Einfluss weit über Köln hinausreicht.

Es begann 1993 mit einer aufwändigen Kampagne: 17.000 Unterschriften übereichten Behshid Najafi und andere Frauen der damaligen Bundestagspräsidentin Rita Süßmuth (CDU), um für ein schnelleres, unabhängiges Aufenthaltsrecht für verheiratete Migrantinnen zu demonstrieren. Waren die Frauen binnen der ersten vier Jahre nach der Einreise in der Ehe von Gewalt betroffen und trennten sich von ihrem Partner, gefährdeten sie mit der Trennung ihren Aufenthalt.

Das Team von Agisra

Das Team von Agisra (v.l.): Shewa Sium, Aleksandra Gajek, Jimena Escobar Torres, Roxane Komenan, Adrijane Mehmetaj-Bassfeld, Soraya Geara, Behshid Najafi, Maja Mulanovic, Burcu Tuna, Rosina Haile

1998 reduzierte die rot-grüne Bundesregierung die Frist auf zwei Jahre. „Im Jahr 2011 hat die CDU/CSU-FDP-Regierung die Frist wieder auf drei Jahre erhöht, vorgeblich zur Bekämpfung von Zweckheiraten“, sagt Najafi. „Wir halten das für falsch und ungerecht. Frauen müssen möglichst schnell rechtlich unabhängig sein – sonst steigt die Wahrscheinlichkeit, dass sie über Jahre Gewalt in der Ehe ausgesetzt sind.“

Viele der Themen seien in 30 Jahren die gleichen geblieben: Menschenhandel und Zwangsprostitution, Armut und Wohnungslosigkeit, Genitalverstümmelung und Zwangsehen. Verschiebungen gab es zum Beispiel beim Sextourismus und der Heiratsmigration: fuhren deutsche Männer bis Anfang der 1990er Jahre vornehmlich nach Südostasien, um dort Frauen kennenzulernen, so steht seit dem Mauerfall und der deutschen Wiedervereinigung Osteuropa im Fokus. Mit jeder Krise – wie aktuell dem Krieg gegen die Ukraine oder klimawandelbedingten Fluchtbewegungen – gibt es neue Geflüchtete, neue Frauen mit existenzbedrohenden Sorgen.  

Die Gewalt an Frauen ist eher mehr geworden, weil es mehr Armut gibt
Shewa Sium, Beraterin bei Agisra

„Die Gewalt an Frauen ist eher mehr geworden, weil es mehr Armut gibt. In vielen Ländern ist der Druck groß, die Heimat zu verlassen“, sagt Shewa Sium, selbst 1979 aus dem Krieg aus Eritrea nach Deutschland geflüchtet. „Deutschland mag in Sachen Gleichberechtigung schon relativ weit sein – die meisten Länder, aus denen die Frauen flüchten, sind Patriarchate.“ Vielen Frauen sei dadurch in ihren Heimatländern der Zugang zu Bildung verwehrt geblieben. Das mache es nicht nur schwerer, hier Arbeit zu finden – viele Frauen wüssten auch gar nicht um ihre Rechte und Möglichkeiten in Deutschland.

4340 Beratungen hat Agisra im Jahr 2021 durchgeführt. Im Schnitt kommt eine Frau drei- bis viermal zum Gespräch, viele werden auch über Monate, manche über Jahre vom Verein unterstützt. Oft geht es in den Gesprächen um Traumata (224 Beratungen), häusliche Gewalt (225), Frauenhandel (105) und Sexarbeit (90). Auch zu den Themen Zwangsheirat (66), Asylbewerbergesetze (80), Asylverfahren (111), weibliche Genitalverstümmelung (97), sexualisierte Gewalt (71) und Rassismus (60) gibt es viel Gesprächsbedarf.

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