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Interview

ASB-Vorsitzender
„Den Punkt, dass Armut die Demokratie gefährdet, haben wir längst erreicht“

5 min
11.12.2024, Köln: Unterwegs mit dem Kältebus auf dem Breslauer Platz.

Der Kältebus des ASB bringt Obdachlosen auch eine warme Mahlzeit.

Knut Fleckenstein vom Arbeiter-Samariter-Bund über Gerechtigkeit und Armut.

Herr Fleckenstein, als Bundesvorsitzender sind Sie selbst schon mit dem Kältebus des ASB unterwegs gewesen, um Obdachlosen zu helfen. Was hat Sie dabei besonders bewegt?

Kurt Fleckenstein: Tatsächlich die dankbaren Gesichter der Menschen. Bei der Planung dieser Aktionen fragen wir uns jedes Jahr, ist das nachhaltig? Wenn wir mit dem Kältebus herumfahren, Schlafsäcke, Decken, heiße Getränke und Mahlzeiten verteilen. Wenn man aber die Menschen erlebt, die gar nicht gewohnt sind, dass man sich um sie kümmert, ihnen bringt, was sie wirklich brauchen, das berührt mich schon sehr. Und manchmal gibt es auch Aktionen, die einen Schritt weitergehen. Vor Weihnachten haben wir beispielsweise in Hamburg 330 einsame Senioren zum Essen eingeladen. Dazu gab es ein kleines Kulturprogramm. Die Gäste konnten auch ihre Telefonnummern austauschen und manchmal entstehen daraus Bekanntschaften, die ein wenig gegen die Einsamkeit helfen. Trotzdem sind das natürlich nur Mosaiksteine. Wir brauchen strukturelle und flächendeckende Hilfe. Und da ist der Staat gefragt.

Es gibt Staaten, die die Wohnungslosigkeit in den Griff bekommen haben. Finnland wird immer wieder als Beispiel angeführt. In Deutschland leben immer noch gut eine Million Menschen auf der Straße. Woran fehlt es?

Was fehlt, ist der politische Wille, umzusetzen, was längst geplant ist. Im Koalitionsvertrag der Bundesregierung steht, dass die Wohnungslosigkeit bis 2030 beseitigt sein soll. Das ist ein schönes Ziel. Aber es bleiben nur noch vier Jahre Zeit. Und derzeit sieht es nicht danach aus, dass wir bis dahin die nötigen Wohnungen und genügend Sozialarbeiter haben, um den Menschen, die vielleicht schon lange auf der Platte leben, und in eine Wohnung zurückkehren wollen, dabei zu unterstützen. Das ist keine Kleinigkeit. Menschen, die obdachlos sind, leben seit durchschnittlich zweieinhalb Jahren auf der Straße. Sie haben Krisen hinter sich: Scheidungen, Unglücke, Todesfälle, Krankheiten, Insolvenzen, Misserfolge. Sie schlafen in Wohnungseingängen, haben keinen Ort für die Körperpflege, wenig Schutzräume. Wenn Sie diesen Menschen zurück in die Gemeinschaft und in eine Wohnung verhelfen wollen, haben Sie eine Menge Arbeit vor sich. Dafür fehlt derzeit an allen Ecken und Kanten das Geld.

Knut Fleckenstein

Knut Fleckenstein vom Arbeiter-Samariter Bund sagt: „Wer sonntags für eine starke Demokratie plädiert, der muss montags bis sonnabends für die sozialen Belange kämpfen, damit diejenigen, denen es schlechter geht, nicht diesen Rattenfängern hinterherlaufen.“

Das stimmt ja nicht. Selbst in einer Rezession gibt es meist ein schwaches Wirtschaftswachstum. Nur bei der Armutskurve verbessern wir uns nicht. Wie kann das sein?

Weil das Geld einfach ungleich verteilt ist. Um denjenigen zu helfen, die dringend Hilfe brauchen, müsste der Staat an anderer Stelle Geld einnehmen. Die Möglichkeiten liegen auf der Hand: Vermögenssteuer, eine höhere Erbschaftssteuer. Es fehlt aber der politische Wille. Aus unserer Sicht ist es so: Wir müssen umdenken. Schließlich zeigt sich daran, wie gut eine Gesellschaft mit ihren Schwächsten umgeht, wie gerecht sie ist.

Sie sagen, dass der politische Wille fehlt. Die Spendenbereitschaft andererseits ist so hoch wie nie. Jeder Fünfte unterstützt vor Weihnachten ein Projekt oder eine Organisation mit privatem Geld. Ist die Gesellschaft da moralisch weiter als der Staat?

Ich glaube, dass die Menschen schlicht lieber etwas Konkretes unterstützen. Steuern zu zahlen, empfinden viele als zu unkonkret, weil das Geld in irgendeinem Topf landet und man den Eindruck hat, dass man es nie wieder sieht. Wenn ich an ein Kinderheim spende und sehe, dass von meinem Geld ein Klettergerüst gebaut wird, dann fühlt sich das besser an, weil es konkret ist. Als Anwalt von mehr als 1,5 Millionen Menschen, ASB-Mitgliedern, muss ich aber darauf hinweisen, dass die Einkommens- und Vermögensentwicklung in Deutschland in einer Schieflage ist. Das kann über punktuelle Spenden allein nicht ausgeglichen werden. Das muss über Steuern geschehen.

„Ich kenne jemanden, der ist Millionär und kämpft dafür, kein Kindergeld zu erhalten. Es gelingt ihm aber nicht“

Wo muss man neben den Steuern noch ansetzen?

Mit Beamten und Politikern zahlen ausgerechnet die Menschen, die für den Staat arbeiten, gar nicht in unsere Renten-, Pflege und Krankenkassen ein. Das war ursprünglich akzeptabel, weil ihre Gehälter gering waren. Heute verdienen sie anders als früher eher gut. Dass diese Ungerechtigkeit auch bei den aktuellen Reformbemühungen ausgespart wird, ist aus meiner Sicht nicht zu tolerieren. Zusätzlich hält unser System manche Menschen regelrecht davon ab, ihr Vermögen zu teilen. Ich kenne jemanden, der ist Millionär und kämpft dafür, kein Kindergeld zu erhalten. Es gelingt ihm aber nicht.

Kann die vielgepriesene KI bei der Armutsbekämpfung helfen?

Ich bin vielleicht nicht der richtige Ansprechpartner für dieses Thema, ich bin 72 Jahre alt. Ich weiß aber, dass der ASB eine menschenzentrierte Digitalisierung vorantreibt und die neue Technik gerade bei der Entbürokratisierung helfen kann. Pflegekräfte müssen zum Beispiel dadurch weniger Berichte schreiben, weil eine KI-gesteuerte App ihnen die aufwändige Pflege-Dokumentation abnimmt, was vorher 20 Minuten gedauert hat, dafür reichen jetzt manchmal 20 Sekunden. Dadurch gewinnt das Pflegepersonal Zeit für den Umgang mit den Menschen. Das befürworte ich sehr.

Armut kann auch ein Problem für die Demokratie werden. Wie viel Armut kann sich Deutschland eigentlich leisten, ohne den inneren Frieden zu gefährden?

Fast jeder fünfte Abgeordnete im Bundestag stammt aus einer Partei, der es nicht auf Gemeinschaft ankommt, sondern auf Spaltung der Gesellschaft. Den Punkt, dass Armut die Demokratie gefährdet, haben wir also längst erreicht. Wer sonntags für eine starke Demokratie plädiert, der muss montags bis sonnabends für die sozialen Belange kämpfen. Damit diejenigen, denen es schlechter geht, nicht auf die einfachen Antworten der Populisten hereinfallen. Ob sie selbstverschuldet in Not gerieten oder nicht, kann man später noch klären. Erst einmal muss diesen Menschen geholfen werden.

„Was soll das bringen, den Leuten in der Not das Geld für die Wohnung zu streichen?“

Von Sanktionen für Bürgergeld-Empfänger halten Sie also wenig?

Man kann Kürzungen in Erwägung ziehen, wenn jemand gar nicht mitarbeitet. Aber was soll das bringen, den Leuten in der Not das Geld für die Wohnung zu streichen? Der Staat kann doch nicht sagen: Dann musst du eben hoffen, dass es nicht regnet und gucken, was du noch in der Mülltonne findest. Das ist doch völlig absurd und mit unserer Verfassung auch nicht in Einklang zu bringen. Das weiß auch jeder.

Wenn wir von der großen Politik weggehen und auf den ASB gucken, was müssten Sie verändern, um Armut systematischer zu bekämpfen?

Auch wir müssen uns weiterentwickeln. Wir sind sehr dezentral aufgestellt. Das ist gut so. Jeder Landesverband macht in gewisser Weise, was er bei sich für richtig und notwendig hält. Dieses Engagement möchten wir gern als Bundesverband im kommenden Jahr besser koordinieren und unterstützen. Es geht darum, insgesamt noch effizienter zu werden, um Wohnungslosenhilfe ausreichend zu gestalten. Denn da gibt es noch Luft nach oben.

Armut heißt nicht nur, dass man kein Geld hat, sondern dass man auch sozial nicht teilhaben kann. Wie können wir verhindern, dass arme Menschen komplett aus der Wahrnehmung verschwinden?

In unseren Sozialstationen in ganz Deutschland kümmern wir uns jeden Tag um solche Menschen und versuchen, Verbindungen in die Gesellschaft herzustellen - zu Nachbarschaftshilfen und Freiwilligen, die mal vorbeikommen und eine Zeitung vorlesen oder sich ein Fußballspiel gemeinsam angucken. Aber da ist natürlich jeder von uns gefragt. Denn dieses gesellschaftlich Problem kann nur gelöst werden, wenn jeder von uns seinen Teil beiträgt. Also, klingeln Sie beim Nachbarn und fragen, wie es ihm geht! Besuchen Sie Ihre Eltern, auch wenn die weit weg wohnen! Jeder kann etwas tun, um unser Gemeinschaftsgefühl wieder zu stärken.


Knut Fleckenstein (72) ist Bundesvorsitzender des Arbeiter-Samariter-Bund Deutschland (ASB). Er war für die SPD zehn Jahre lang Mitglied des Europäischen Parlaments und von 2017 bis 2019 dort außenpolitischer Sprecher der SPD-Fraktion. Er ist verheiratet und hat zwei Töchter.