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Kölner Anwalt über brutale Tötung„Ich konnte selten eine Tat so nachvollziehen“

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Der renommierte Kölner Strafverteidiger Martin Bücher in seiner Kanzlei in der Kölner Innenstadt.

Der Augenblick, als er das erste Mal auf Maurice S. trifft, hat sich eingebrannt ins Gedächtnis des Kölner Strafverteidigers Martin Bücher. Sein Mandant kauert in einer Zelle im Polizeipräsidium, er zittert am ganzen Körper, sein Gesicht hat die Farbe von Tafelkreide. Ein Bürschchen von 27 Jahren, einen Kopf kleiner als der Anwalt. Der Blick voller Angst. Acht Stunden zuvor hat Maurice S. seinem Stiefvater mit einer Axt den Schädel gespalten.

Es war ein regelrechtes Massaker in einer Villa im Kölner Stadtteil Dünnwald, ein von Vernichtungswillen getragener Akt, wie ein Richter es später formuliert. Für Martin Bücher,  renommierter Fachanwalt für Strafrecht, beginnt an diesem Tag in der Zelle des Polizeipräsidiums die Arbeit in einem Fall mit vielen Facetten. Rückblickend sagt er: „Ich konnte selten eine Tat so nachvollziehen.“ Das Verfahren wurde kürzlich vor dem Bundesgerichtshof  abgeschlossen. Bücher war der Mann an der Seite des Verurteilten. Der Mann, der seinen Mandanten gegen die Macht des Staates und seiner Strafgewalt verteidigte. Im Prozess beschäftigt ihn nicht so sehr die Frage „schuldig oder nicht?“, sondern „wie schuldig?“ und damit die Frage nach dem Strafmaß. Im „Kölner Stadt-Anzeiger“ spricht Bücher über seine Arbeit im Dienste des Mandanten. Über Strategien, Hoffnungen und Rückschläge.

Der Fall: Dem Stiefvater den Schädel gespalten

Ein Sonntagmorgen im April 2018. Bücher meint sich zu erinnern, er habe wahrscheinlich gerade am Frühstückstisch gesessen, als sein Handy klingelt. Ein Mann meldet sich. Auf dem Polizeipräsidium warte ein neuer Mandant, ein Bekannter des Anrufers. Büchers Kanzlei ist deutschlandweit ein Begriff, mit seinen Kollegen führt er das Erbe der verstorbenen Kölner Strafverteidiger-Legende Reinhard Birkenstock weiter, der beispielsweise als Kachelmann-Anwalt bekannt wurde.

Alles zum Thema Amts- und Landgericht Köln

Bücher lässt das Frühstück stehen,  rast in seinem Wagen nach Kalk. Im Gewahrsamsraum des Präsidiums stellt der Anwalt sich Maurice S. kurz vor, dann kommt im Gespräch unter vier Augen auch schon die Standardfrage: Was ist passiert? Maurice S.  schildert das Blutbad, scheint dabei reflektiert. „Ihm war völlig klar, dass ihn diese Tat für mehrere Jahre ins Gefängnis bringen wird“, sagt Bücher. „Wir sagen jetzt gar nichts mehr“, rät er seinem Mandanten.  Der Haftrichter erlässt Haftbefehl. Verdacht auf Totschlag. Maurice S. wird in die Justizvollzugsanstalt Köln verbracht.

„Kein Tötungsdelikt geschieht ohne Vorgeschichte“

Martin Bücher hat zahlreiche Mörder und Totschläger vertreten und weiß: „Kein Tötungsdelikt geschieht ohne Vorgeschichte, schon gar nicht im Familienkreis.“ Die Geschichte der Familie von Maurice S. erzählt sich seinen Angaben zufolge so: Hassliebe zwischen Mutter und Stiefvater. Leidenschaft, Zuneigung, aber auch Misstrauen und Verdächtigungen hätten die Beziehung geprägt, erzählt Maurice S. seinem Anwalt. Der Stiefvater, ein erfolgreicher Unternehmer aus Dünnwald, habe den Verdacht gehegt, dass seine Frau ihn im gemeinsamen Kroatien-Urlaub habe vergiften wollen. 

Immer wieder sei es zu Streit und Gewaltausbrüchen gekommen. Maurice S. bewohnte eine Einliegerwohnung im Haus der Eltern, er habe immer alles mitbekommen. Oft sei die Mutter zu ihm in den ersten Stock geflüchtet, sagt Maurice S. Er habe seine Eltern auseinander halten müssen, „dieser Stress verfolgte mich, obwohl ich ihm aus dem Weg gehen wollte.“ Martin Bücher glaubt: „Er fühlte sich seiner Mutter verpflichtet.“

Wie Ermittlungen ergeben, betrinkt sich der Stiefvater am Vorabend der Tat vom 22. April 2018 in einer Gaststätte. Zwischen kurz vor acht und Mitternacht tauscht er mit seiner Frau mehr als 250 Whatsapp-Nachrichten aus. Der Inhalt: Die Affäre seiner Frau. Die Form: Vor allem Beleidigungen. Dann taucht er in der Wohnung seines Stiefsohnes auf, beschimpft dessen Mutter. Als Maurice S. ihn rauswirft und die Tür abschließt, rastet der Unternehmer vollends aus, poltert gegen die Tür und schreit, er lasse sich in seinem eigenen Haus nicht aussperren. Maurice S. öffnet die Tür wieder. Es kommt zu einem Handgemenge. Der Stiefvater schubst seine Frau, seinen Stiefsohn. Maurice S. schreit: „Hör auf!“ Die Männer ziehen sich gegenseitig an den Haaren. Fäuste fliegen, bald klebt Blut dran.

„Sperren Sie mich einfach ein“

Maurice S. bricht seinem Stiefvater das Zungenbein, prügelt auf ihn ein. Er greift zu dem Beil, das zur Dekoration, wie er später sagt, auf der Fensterbank liegt. Maurice S. schlägt zu, trifft seinen Stiefvater zweimal hinter dem linken Ohr. Das Beil durchtrennt Kopfschwarte, Schädeldach und zwei Halswirbel. Der 53-Jährige ist sofort tot, er stirbt an einem zentralen Regulationsversagen mit Halsmarkdurchtrennung.

Während Sohn und Mann noch aufeinander einschlugen, hatte die Mutter von Maurice S. die Polizei gerufen. Ein Mitschnitt des Notrufprotokolls dokumentiert ihre Schreie. Eine Beamtin bittet sie, den Hörer an den Sohn weiterzureichen. Der sagt: „Hallo, ich glaube, ich habe gerade jemanden umgebracht. Sperren Sie mich einfach ein.“ Minuten später erreichen mehrere Streifenwagen das Anwesen in Dünnwald. Maurice S. lässt sich widerstandslos festnehmen.

Der Täter: Nie die Erwartungen erfüllt

Bücher hatte die Ermittlungsakte mit allen Details im Aktenkoffer, als er die JVA betrat, scheute sich aber, Maurice S. die darin enthaltenen Tatortbilder zu zeigen. „Das ganze Zimmer war voll von Blutspritzern, die offenbar von der Ausholbewegung nach dem ersten Schlag her rührten“, erzählt der Anwalt. Beim Anblick des toten Stiefvaters hätte Maurice S. das Gespräch wahrscheinlich direkt abgebrochen, zu geschockt sei er noch gewesen. Ihm erscheine alles so unwirklich, sagte der 27 Jahre alte Tatverdächtige.

Er habe eine Lehre als Koch absolviert, die Erwartungen seines Stiefvaters aber nie erfüllt. Zuletzt habe er nur noch am Computer gezockt. Wahrscheinlich sei er das vergangene Jahr nur „besoffen oder verkatert“ gewesen. Erschöpft vom ständigen Terror zwischen seiner Mutter und dem Stiefvater. Geliebt habe er beide und er bereue es, sich nicht räumlich und auch emotional von ihnen getrennt zu haben. Er habe gewollt, dass sein Stiefvater verschwinde, „aber ich habe auch niemals nur daran gedacht, dass es auf diese Weise geschehen sollte.“ Worte, die Verteidiger Bücher einige Monate später wörtlich für seinen Mandanten beim Prozess im Kölner Landgericht vortragen wird.

„Wie hat es so weit kommen können?“

Wie spricht man mit einem Mann, der gerade seinem Stiefvater den Schädel gespalten hat? Mit einem Beil. Wie schafft man es, dass die Verzweiflung, die Wut, die Trauer, die Reue, Rechtfertigungsversuche und Selbstmordgefährdung  nicht jeden klaren Gedanken zunichte machen? Erstmal müsse so etwas wie Ruhe einkehren, Gewöhnung an die Haftbedingungen. Das braucht Zeit. Gerade, wenn es sich um eine Beziehungstat handelt. Und eine entsprechende Ausstattung. „Oft hilft es schon, wenn sie einen Fernseher auf die Zelle bekommen, um sich ablenken zu können“, sagt der Anwalt.

Hinter den aufwühlenden Emotionen versucht der Strafverteidiger zu etwas vorzudringen, was er den „Kern der Persönlichkeit“ des Mandanten nennt. Die Frage nach dem „Warum?“ steht im Raum und dahinter die Vorgeschichte. „Wie hat es so weit kommen können?“ Manchmal geben Antworten darauf Anlass, auf strafmildernde Umstände zu hoffen. Schließlich ist Büchers Ziel klar: Eine hohe Haftstrafe abwenden. Maurice S. habe auf ihn immer authentisch gewirkt. „Mir war klar, dass da kein abgebrühter Killer vor mir saß“, sagt Bücher rückblickend. Dennoch: „Sich auf eine Notwehrlage zu berufen, hätte keinen Sinn gemacht, der Einsatz der Waffe bei der Prügelei war nicht verhältnismäßig.“

Verteidiger sieht Ansätze einer Tat im Affekt

Aber die Zutaten für eine Affekttat sind laut Bücher gegeben: Labile Persönlichkeit des Mandanten,  aufgeheizte Situation in der Tatnacht, Verzweiflung, Wut. Der Bruder des Getöteten sieht das anders, wähnt hinter der Tat ein Mordkomplott, ein Zusammenspiel zwischen Stiefsohn und Mutter, um das Erbe des Getöteten abzugreifen. „Das war natürlich Unsinn“, sagt Bücher nach Studium der Zeugenaussagen. Die Vorwürfe des Bruders beweisen für ihn eher sein Bild einer „total kaputten Familie“.

Für Maurice S. beginnt das lange Warten, bis die Behörden ihre Ermittlungen abgeschlossen haben. „Eine gefährliche Zeit“, sagt Bücher. Viele Wochen und Monate passiere scheinbar gar nichts und dann kämen noch Mitgefangene mit unbrauchbaren Ratschlägen. Bücher verpasst seinen Mandanten vorsichtshalber einen Maulkorb, denn so mancher Zellengenosse gebe auch gerne mal belastende Gesprächsinhalte an die Ermittler weiter, weil er sich dadurch Vorteile für das eigene Verfahren erhoffe. Dreieinhalb Monate dauert es. Dann kommt die Nachricht, die zunächst aufatmen lässt: Die Staatsanwaltschaft erhebt Anklage – Totschlag lautet der Vorwurf, ein Mordmerkmal wie Habgier oder Heimtücke sehen die Ankläger nicht. Ein Etappenziel, sagt Bücher. Eine lebenslängliche Haftstrafe sei nicht mehr zu erwarten gewesen.

Das Urteil: Richter spricht von Vernichtungswillen

Im abgedunkelten Gefängnistransporter wird Maurice S. an einem Novembertag von der JVA Ossendorf ins Justizgebäude an der Luxemburger Straße gebracht, Prozessauftakt im Landgericht Köln, Saal 5. Hängende Schultern, starrer Gesichtsausdruck, so lässt der Angeklagte das Blitzlichtgewitter der anwesenden Fotografen über sich ergehen. Martin Bücher steht neben ihm. Sein Blick ernst und betroffen. Keine Spielereien. Einen anderen Bücher kann man sehen, wenn er in der Verhandlung neben dem breitschultrigen Chef der Kölner Hells Angels steht, dann verschränkt der Anwalt selbstgefällig die Arme und grinst in die Kameras.

Der Angeklagte bleibt stumm, das Reden übernimmt Bücher. Er malt ein Bild der Gegensätze. Auf der einen Seite der schüchterne Junge. Auf der anderen ein „tyrannischer versoffener Stiefvater, der seiner Familie das Leben zur Hölle gemacht hat.“ Er spricht von Verzweiflung, Maurice S. sei in die Ecke gedrängt worden. „Ich wollte, dass es aufhört“, seien dessen Gedanken gewesen, kurz bevor er mit der Axt zugeschlagen habe. Auch Maurice S. sei ein Opfer, ein „minder schwerer Fall des Totschlags“ liege vor. Büchers Forderung: Höchstens vier Jahre Haft.

Hohe Strafe, weil Maurice S. zweimal zuschlug

In einer Hauptverhandlung werde ein Geschehen von oft nur wenigen Sekunden in Zeitlupe eingefroren und scheibchenweise betrachtet, sagt Bücher. Aus Geständnis, Zeugenaussagen und den Berichten von Gerichtsmedizin und der psychiatrischen Gutachterin ergibt sich für die Richter ein ambivalentes Bild von Maurice S. Das gegängelte Bürschchen aus Büchers Beschreibung wird dann zum Mann mit dem absoluten Tötungswillen.

Richter Jörg Bern verurteilt Maurice S. wegen Totschlags zu achteinhalb Jahren Gefängnis. Das relativ hohe Strafmaß ist der Tatsache geschuldet, dass der 27-Jährige mit der Axt ein zweites Mal zuschlug, als sein Opfer schon halbtot am Boden lag. Ein Mensch sollte vernichtet werden, sagt der Richter, das könne kein minder schwerer Fall sein.

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„Ich empfand das Urteil als ungerecht“, sagt Martin Bücher, den zweiten Beilhieb habe das Gericht zu stark in den Fokus genommen, „es war eine durchgängige Tatausführung.“  Bücher legt Revision ein, doch der Bundesgerichtshof  bestätigt zuletzt die Kölner Entscheidung. Maurice S. sitzt seitdem in Strafhaft, bei guter Führung könnte er in drei Jahren frei kommen. Zu Bücher hat er keinen Kontakt mehr.

Der Anwalt: „Strafverteidigung ist kein Wunschkonzert“

Bis heute könne er das harte Urteil gegen Maurice S. nicht nachvollziehen, sagt Bücher. Er erinnert sich an einen Kerpener Mandanten, der seinen Lebenspartner mit sieben Messerstichen getötet und danach noch fünf Wochen neben der Leiche in der Wohnung gelebt hatte. Fünf Jahre Gefängnis lautete damals das vergleichsweise milde Urteil. Lediglich vier Jahre in Haft musste ein Kölner, der seine Ehefrau mit deren künstlichen Haarzopf erwürgt hatte. Immer Beziehungstaten. Immer „ist das Fass irgendwann übergelaufen“.

Eine Frage, die Bücher oft gestellt wird: Wie kann man Menschen verteidigen, die derart schlimme Verbrechen begangen haben? „Strafverteidigung ist kein Wunschkonzert“, antwortet Bücher dann gerne. Sicher, er könnte auch als Staatsanwalt arbeiten. Die Mörder, die Rockerbosse, die Steuerbetrüger jagen, auf der Seite der Guten eben. Aber nein. „Dafür bin ich nicht gemacht“, sagt Bücher. Wofür er gemacht ist: In die Abgründe der menschlichen Seele abtauchen, mit den Beschuldigten arbeiten. Versuchen zu verstehen. Versuchen zu helfen. 

Und was ist, wenn die Gerechtigkeit dabei auf der Strecke bleibt, eigentlich schuldige Verbrecher auch mal freigesprochen werden? Bücher bleibt trocken und unbeteiligt: „Das muss der Rechtsstaat aushalten.“

Ganze Urlaube für die Mandanten abgesagt

Ein zeitintensiver Job. Zehn Stunden und mehr verbringt Bücher nach eigenen Angaben pro Tag im Büro, im Gericht oder in der JVA. Familie, Freunde oder Hobbys, für all das bliebe unter der Woche wenig Zeit und auch die Wochenenden drehten sich ständig um den Beruf. Lange geplante Flugreisen habe er stornieren müssen, weil das Gericht die Verhandlungstermine im Sommer nicht anders habe legen können. Stattdessen sei Urlaub in der Eifel angesagt gewesen, „da konnte ich in den Prozesspausen dazustoßen.“ Viele Freunde habe er verprellt, Feiern von Hochzeiten und runden Geburtstagen manchmal in letzter Minute abgesagt.

Einmal, Bücher erinnert sich noch gut, ist er schon auf dem Weg in den Kurzurlaub. Köln und die Arbeit scheinen schon abgeschüttelt. Da holt der Alltag wieder auf. Im Auto klingelt das Telefon. Freisprechanlage. Alle Mitreisenden hören die aufgeregten Einleitungsworte seines Mandanten: „Herr Bücher, es ist große Scheiße passiert.“ Irgendwas mit Drogen. Bücher fährt rechts ran. Berät sich kurz und dreht um. Urlaub abgeblasen, der nächste Fall wartet.

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