Projekt an Kölner SchulenWas hat der Holocaust eigentlich mit mir zu tun?

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Die Gefühle lassen sich oft leichter mit dem Körper ausdrücken

Köln – Auf die Frage, was der Holocaust womöglich mit ihnen zu tun habe, reagierten einige Jugendliche verstört. „Was ist das für eine Frage, wir waren doch noch gar nicht geboren“, sagte eine Schülerin der Gesamtschule Bergheim genervt. „Geht es jetzt um die Kollektivschuldfrage?“, fragte ein Schüler. Nein, sagten die Referentinnen, es gehe um Verbindungen von Geschichte und Gegenwart, Biografien der eigenen Familien zum Beispiel und den gegenwärtigen Antisemitismus in Deutschland. Es gehe darum, gemeinsam besser zu verstehen, was war – und was heute getan werden kann, damit sich Geschichte nicht wiederholt.

„Es ging an die Substanz“

„Es ging immer wieder an die Substanz“, sagte Regisseurin Svetlana Fourer bei der Präsentation der Ergebnisse des Zeitzeugen- und Zeitzeuginnentheaters des Bundesverbands für NS-Verfolgte im VHS-Forum am Sonntagnachmittag. „Die Corona-Pandemie hat die Aufgabe zusätzlich erschwert. Hinter den Masken konnten wir uns nicht sehen – wir durften uns nicht berühren und mussten Abstand halten.“

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Meistens wurde draußen geprobt

Unter Corona-Bedingungen mit Holocaust-Überlebenden sowie deren Nachfahren aus der zweiten und dritten Generation zu sprechen und aus den Biografien Szenen zu entwickeln – anspruchsvoller kann eine Aufgabe für Jugendliche in der Tat kaum sein. In seinem jüngsten Projekt widmete sich der Bundesverband für NS-Verfolgte bewusst auch den Nachkommen von Überlebenden des Holocausts.

Gespräche mit verschiedenen Generationen

Das junge Import-Export-Ensemble des Schauspiels Köln, ein Kurs der Integrierten Gesamtschule Innenstadt (igis) und eine Gruppe der Gesamtschule Bergheim befragten neben Herbert Rubinstein, der den Holocaust als kleines Kind überlebte, auch Shulamit Baxpehler, Zeitzeugin der zweiten Generation, deren Großmutter Auschwitz überlebte, und Sharon Ryba-Kahn, Zeitzeugin der dritten Generation.

Wut auf Deutschland

Auch deren Großvater hatte Auschwitz überlebt, auch ihr Vater hatte lange geschwiegen – bis die Tochter ihn mit der eigenen Geschichte konfrontierte. Ryba-Kahn hat in dem bewegenden Dokumentarfilm „Displaced“ ihre Familiengeschichte aufgearbeitet – sie spricht darin auch über ihre Wut auf Deutschland und ihre Wut über den Umgang nichtjüdischer Deutscher mit ihrer Vergangenheit.

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Theaterprobe unter Coronabedingungen

Ryba-Kahn sagte den Jugendlichen, dass sie es sich nicht ausgesucht habe, dass ihre Familiengeschichte zu ihrem Lebensthema wurde – und sie es als ungerecht erlebe, sich ständig mit der Geschichte auseinandersetzen zu müssen, während nichtjüdische Deutsche das Privileg hätten, die Geschichte einfach vergessen zu können.

„Warum lebt sie dann noch in Deutschland?“

Die Worte von Rubinstein, Baxpehler und Ryba-Kahn berühren die meisten der Jugendlichen – als Reaktion auf Ryba-Kahns Wut auf Deutschland kommt aber in einer Reflexionsrunde auch die Frage einer Kursteilnehmerin in Bergheim: „Warum lebt sie dann noch in Deutschland?“

Bundesverband für NS-Verfolgte

Als gemeinnützliche Organisation ist der Bundesverband für NS- Verfolgte auf Spenden angewiesen. Die Spende verwendet der Bundesverband für die betroffenen Menschen und laufende Projekte, wie das Erzähl- und Begegnungscafé „Warmes Zuhause" und die Zeitzeugenarbeit. Kontakt unter www.nsberatung.de.

Um emotionale Reaktionen zu moderieren und Emotionen, die sich nur schwer über Sprache ausdrücken lassen, über Schauspiel und Bewegung auszudrücken, arbeitet der Bundesverband Information & Beratung für NS-Verfolgte für seine Zeitzeugen-Projekte mit Teams von Expertinnen und Experten: Neben Theaterregisseurinnen und Dramaturginnen flankieren eine Theaterpädagogin, Journalistinnen, Filmemacher, ein Musiker, eine Historikerin und bei Bedarf auch Psychologinnen die Arbeit mit den Zeitzeuginnen und Zeitzeugen.

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Für die meisten Jugendlichen bedeutet die Auseinandersetzung mit dem Holocaust, Rassismus und Antisemitismus über ein ganzes Schuljahr eine große Bereicherung. Milla Reiche von der Integrierten Gesamtschule Innenstadt sagte, sie habe sich während des Projekts intensiv mit der Biografie ihrer Großmutter beschäftigt.

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Schülerin Mila Reiche hat das Projekt beeindruckt.

„So habe ich ganz viel über meine Familiengeschichte erfahren, was ich noch nicht wusste.“ „Damit hat Milla etwas geschafft, was ich nicht geschafft hatte bis jetzt: Meine Mutter mit ihrer Geschichte zu konfrontieren“, sagte ihr Vater Michael Rösch.

Dokumentarfilm auf Youtube

Coronabedingt haben die Teams die Geschichten der Zeitzeugen in diesem Jahr nicht in einem Theaterstück erzählt, sondern in dem Dokumentarfilm „Gedächtnisprotokolle der Sprachlosigkeit“ zusammengefasst, der auf den Seiten des Bundesverbands Information & Beratung für NS-Verfolgte Youtube zu sehen ist.

Das Projekt hat im Wettbewerb der Bundeszentrale für politische Bildung „Aktiv für Demokratie und Toleranz 2021“ den ersten Preis gewonnen.

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