Vergewaltigung von Frauen als Kriegswaffe„Der Schmerz wandert durch Familien“

Lesezeit 11 Minuten
Neuer Inhalt (2)

Die Kölner Regisseurin Katja Duregger (l.) und Karin Griese vom Verein medica mondiale

  • Ein Interview anlässlich des Internationalen Tags gegen Gewalt an Frauen am 25. November.

Köln – Katja Duregger hat eine besondere Familiengeschichte: Ihr Vater kam nach einer Vergewaltigung zur Welt. Zum ersten Mal erzählt die in Köln lebende Regisseurin (50) öffentlich davon und erklärt, wie die traumatische Erfahrung ihrer Großmutter sie und ihre Familie bis heute prägt. Karin Griese leitet den Fachbereich Trauma-Arbeit bei medica mondiale. Der 1993 gegründete Verein mit Sitz in Köln arbeitet weltweit mit Partner-Organisationen, um Mädchen und Frauen in Kriegs- und Krisengebieten wie Afghanistan, Ruanda oder Südosteuropa zu helfen, die sexualisierte Gewalt erlitten haben.

In diesem Jahr weist der Verein mit seiner Kampagne „Niemals nur Geschichte. Gemeinsam gegen sexualisierte Kriegsgewalt“ auf das Leiden der unzähligen Frauen weltweit hin, die während oder nach dem Zweiten Weltkrieg Opfer von Vergewaltigungen wurden und aktuell immer noch werden. Der Verein möchte in Köln einen internationalen Erinnerungsort für Frauen errichten, die in Kriegen sexualisierte Gewalt erlitten haben. OB Henriette Reker hat bereits ihre Zustimmung gegeben. Ein Gespräch über Tabuisierung, Aufarbeitung und fehlende öffentliche Anerkennung.

Frau Duregger, Sie haben Ihre Familiengeschichte bislang noch nie öffentlich erzählt. Warum jetzt?

Alles zum Thema Henriette Reker

Duregger: Weil ich mittlerweile verstanden habe, dass es gut ist, sich nicht zu verstecken mit dem Thema. Weil das alle tun und das niemandem hilft. Ich habe mich lange völlig allein gefühlt mit meiner Familiengeschichte. Mir hätte es früher unheimlich geholfen, wenn jemand so eine Geschichte öffentlich erzählt hätte – und darum tue ich es jetzt. Ich hatte lange Zeit sehr verinnerlicht, dass man so etwas nicht erzählen darf, dass auch seiner Familie nicht antun darf. Das ist, glaube ich, sehr typisch.

Wie haben Sie von der Geschichte Ihres Vaters erfahren?

Duregger: Eher beiläufig, als mein Vater von seiner Kindheit erzählt hat. Irgendwie wusste ich immer, unter welchen Umständen er auf die Welt gekommen ist und was meiner Oma widerfahren ist. Was schon viel mehr ist als in anderen betroffenen Familien, wo es vielleicht nur Ahnungen gibt.

Wie viel wissen Sie von dem, was passiert ist?

Duregger: Es ist nicht die klassische Geschichte von der Mutter oder Oma, die auf der Flucht von Soldaten vergewaltigt worden ist. Meine Oma kommt aus Südtirol, das seit dem Ersten Weltkrieg von Italien besetzt war. In ihrem Dorf hatte Mussolini italienische Soldaten in einer Kaserne stationiert. Die sollten die Bevölkerung unterdrücken, unter anderem, indem sie die Frauen vergewaltigen. Die Südtiroler sollten italienisch werden, das war die perfide Idee. Meine Oma ist 1938 von einem Soldaten vergewaltigt worden.

Sie wurde daraufhin schwanger und hat Ihren Vater zur Welt gebracht. Wie hat sie das Geschehene verkraftet?

Duregger: Meine Oma war sehr katholisch und hat deshalb die erlebte Gewalt und das uneheliche Kind als großen Makel empfunden. Sie war zum Zeitpunkt der Vergewaltigung jung und alleinstehend und hat danach nie geheiratet. Da in dem Dorf sehr viele Frauen betroffen waren, hat man sich gegenseitig immerhin unterstützt, zumindest was das rein physische Überleben betrifft. Psychologisch gab es natürlich keine Hilfe. Ich will aber auch nicht zu sehr ins Detail gehen. Mein Vater lebt ja noch, er ist jetzt Anfang 80.

Haben Sie ihm gesagt, dass Sie öffentlich über Ihre Familiengeschichte sprechen wollen?

Duregger: Nein, und er wäre auch böse darüber. Aber ich möchte trotzdem heute öffentlich über mein Leben sprechen, weil das schmerzhafte Schweigen immer weiter geht, wenn man es nicht durchbricht, weil man Angst vor der Reaktion seiner Eltern hat.

Wie haben Sie die Beziehung zwischen Ihrem Vater und seiner Mutter erlebt?

Duregger: Das war ein sehr distanziertes Verhältnis, trotz einer starken emotionalen Bindung. Es war alles andere als eine gesunde, liebevolle Mutter-Kind-Beziehung. Das hat sich in einer Begrenzung meines Vaters fortgesetzt, mir und meinem Bruder liebevolle Zuneigung zu zeigen. Der Job meines Vaters war es, sich ökonomisch um uns zu kümmern. Wenn ich mit ihm über Gefühle sprechen will, guckt er mich an und sagt: Ich habe doch alles gemacht, dir geht es doch gut, wo ist das Problem? Und aus seiner Sicht ist das auch so.

Sprachlosigkeit.

Duregger: Total. Gleichzeitig hat er sich aber auch als Opfer gefühlt. Was er ja auch war.

Wie hat Ihre Familiengeschichte Sie persönlich geprägt?

Duregger: Ich habe früh geahnt, dass die Art, wie ich Beziehungen lebe, nicht gut ist. Ich hatte immer das Gefühl, ich öffne mich nicht wirklich, bin zurückgezogen. Da war immer ein Gefühl von Scham und ein diffuses Schuldgefühl. Ich mache schon seit vielen Jahren Filme und fand es immer einfacher, mich hinter der Kamera zu verstecken, andere zu beobachten und deren Geschichten zu erzählen. Aber ich habe auch gelitten, habe viel reflektiert und verstanden, aber geändert hat sich mein Grundgefühl dadurch nicht. Erst durch eine Körpertherapie habe ich verstanden, wie sehr ich es verinnerlicht hatte, Menschen auf Distanz zu halten und bin jetzt dabei, das zu verändern.

Frau Griese, kommt Ihnen aus Ihrer Arbeit bekannt vor, was Katja Duregger erzählt?

Griese: Auf jeden Fall. Der Mangel an Nähe zwischen ihrem Vater und ihrer Oma ist sehr typisch. Tabuthemen können das Entstehen von Nähe in der Familie beeinträchtigen. Wer traumatische Erfahrungen macht, verliert oft das Vertrauen in sich selbst und andere. Das wirkt sich so auch auf Beziehungen aus, zum Beispiel durch Vermeidungsverhalten. Man vermeidet, in eine starke Emotionalität zu kommen aus Schutz. Katja, du hast aber auch beschrieben, dass du empathisch mit deinem Vater bist. Auch bei ihm gibt es offenbar einen Schutzmechanismus, was immer auch unwillkürlich ein Versuch sein kann , den eigenen Schmerz von der Familie fernzuhalten.

Duregger: Aber wenn dieser Schutzmechanismus dazu führt, dass man am Ende den Kontakt zu allen verliert und kein liebevolles Miteinander hat, ist das ein sehr hoher Preis, den er auch selbst zahlt. Meinem Vater ist das vielleicht nicht so bewusst, aber es gibt mit Sicherheit auch bei ihm ein Leiden daran.

Griese: Irgendwann wird es dysfunktional und ist natürlich nicht mehr hilfreich. Dieses Leiden und nicht wissen warum ist übrigens typisch für transgenerationale Traumafolgen. Vieles ist im Unklaren, aber irgendetwas stimmt nicht. Wenn es möglich ist, etwas von der Geschichte und den Zusammenhängen herzustellen und aufzuarbeiten, kann das sehr wertvoll sein. Wie in deinem Fall, Katja.

Duregger: Ich habe einmal den Satz gelesen: Pain travels through families until someone is ready to feel it. Also: Schmerz wandert durch Familien, bis jemand bereit ist, ihn zu fühlen. Ich glaube, dass da viel Wahrheit drin steckt.

Wenn Traumata in Bezug auf Kriege diskutiert werden, stehen meist Soldaten oder nach dem Zweiten Weltkrieg auch die sogenannten Kriegsheimkehrer im Fokus. Das erscheint mir das dominante Narrativ.

Griese: Ja, und das ist ein Riesenproblem für eine ganze Generation von potenziell traumatisierten Frauen, die oftmals keine gute Verbindung zu sich selbst herstellen können oder auch zu ihren Kindern. Bei der jahrzehntelangen Tabuisierung der Gewalt, spielte in Deutschland auch eine Rolle, dass vor dem Hintergrund des unvorstellbaren Leids, das die Nazis über die Welt gebracht haben, es lange keinen Raum gab, über die Vergewaltigungen in Deutschland zu sprechen . Erst seit wenigen Jahren wird darüber in einer breiteren Öffentlichkeit diskutiert und das Leid der Frauen auch hier langsam anerkannt.

Weiß man, wie viele Frauen allein in Deutschland von Vergewaltigungen betroffen waren, aus denen dann auch Kinder entstanden sind?

Griese: Es gibt Schätzungen wonach zwischen 1945 und 1955 etwa 400.000 Kinder geboren wurden, deren Väter Besatzungssoldaten waren. Darunter sind aber auch Kinder, die aus freiwilligen Beziehungen stammen. Die Dunkelziffer ist wahrscheinlich höher. Nur partiell kann man das offiziell nachvollziehen anhand von Krankenhaus-Akten über schwangere Frauen etwa. Es ist Teil des Problems, dass man keine validen Zahlen hat, weil Vergewaltigungen oft nicht als solche anerkannt und registriert wurden. Viele Frauen schwiegen auch aus Scham oder Angst vor sozialer Ausgrenzung. Das Thema wurde komplett tabuisiert.

Orange Days in Köln – Gebäude leuchten

Jedes Jahr machen weltweit Organisationen und Frauenrechtsbewegungen am 25. November, dem Internationalen Tag gegen Gewalt an Frauen, darauf aufmerksam, dass Frauen und Mädchen immer noch Gewalt und Unterdrückung erleben müssen. In diesem Jahr veranstaltet auch die Stadt Köln gemeinsam mit den Frauenhilfeeinrichtungen des Arbeitskreises „Gegen Gewalt an Frauen“ am Mittwoch eine Aktion – von 18 bis 24 Uhr werden Gebäude der Stadt orange leuchten. Auch DuMont und der „Kölner Stadt-Anzeiger“ unterstützen die Aktion und lassen das Verlagshaus orange leuchten.

Wie hilft medica mondiale Frauen heute?

Griese: Über unsere Partner-Organisationen bieten wir Frauen,nach einer Vergewaltigung psychosoziale oder rechtliche Beratungen oder auch ökonomische Unterstützung an. . Manche Frauen suchen erst lange nach einer Vergewaltigung eine Beratungsstelle auf, weil ihnen erst dann klar wird, welche Auswirkungen das Trauma auf ihr Leben hat. Unsere Partnerorganisationen schaffen Räume, wo die Frauen Wertschätzung finden und sich sicher fühlen können. Manchmal kommen auch Mütter mit ihren Kindern, die in Folge einer Vergewaltigung geboren wurden. In Bosnien und in Ruanda haben wir damit besonders häufig zu tun gehabt.

Welche Probleme haben diese Mütter und ihre Kinder?

Griese: Oft sprechen die Mütter mit ihren Kindern nicht über das, was passiert ist, was die Beziehung allerdings enorm beeinträchtigt. Oder es gibt das Problem, dass die Gewalterfahrung häufiger neu getriggert wird durch den Anblick des Kindes, das dem Gewalttäter vielleicht sogar ähnlich sieht. Häufig wird das Verhältnis zwischen Mutter und Kind besonders schwierig in einer Phase, wo Konflikte ohnehin häufiger werden, in der Pubertät etwa. Die Frauen brauchen idealerweise über lange Zeit Begleitung, damit die Beziehung zu dem Kind, die immer auch mit Schmerz verbunden ist, gut gelingen kann. Was mich freut: Ich erlebe, dass immer mehr dieser Kinder heute an die Öffentlichkeit gehen, andere Betroffene suchen und über ihr Schicksal sprechen. Sie brechen mit dem Tabu.

medica mondiale möchte einen internationalen Erinnerungsort in Köln für Kriegsgewalt gegen Frauen errichten lassen. Was bringt ein solcher Ort jenseits seiner Symbolik?

Griese: Ein offizieller Erinnerungsort macht deutlich, dass die Öffentlichkeit das Unrecht würdigt und anerkennt, dass die betroffenen Frauen gesehen werden. Das ist auch auf psychologischer Ebene ganz wichtig, um Heilung zu erfahren und traumatische Erfahrungen überwinden zu können. Außerdem bringt es eine Diskussion in der Gesellschaft in Gang, die der Tabuisierung entgegenwirkt. Ich finde es sehr bezeichnend, dass es unzählige Denkmäler für Soldaten gibt, aber nur wenige, die dezidiert weibliche Opfer von sexualisierter Gewalt in Kriegen würdigen. Obwohl es so viele betroffene Frauen gibt.

Frau Duregger, wünschen Sie sich einen Erinnerungsort?

Duregger: Ja. Ich möchte, dass Menschen nicht mehr das Gefühl haben müssen, mit ihrer traumatischen Familiengeschichte allein zu sein. Ich will, dass das Schweigen aufhört, dass Familien über Generationen vergiftet. Ich möchte, dass es Frauen leichter gemacht wird, über Gewalterfahrungen zu sprechen. Die Gewalt, die Frauen erleben oder erlebt haben, verdient viel mehr Wahrnehmung und Anerkennung. Nur so kann sich auch eine Gesellschaft verändern.

Podiumsdiskussion im Livestream

Wie wirken sich Gewalterlebnisse von Frauen auf nachfolgende Generationen aus? In einer Podiumsdiskussion zum Thema Transgenerationale Traumatisierung sprechen Monika Hauser, Gründerin des Kölner Vereins medica mondiale, Karin Griese und Katja Duregger über sexualisierte (Kriegs-)Gewalt und die individuellen und gesellschaftlichen Folgen. Veranstaltet wird der Abend vom Forum Volkshochschule Köln und medica mondiale. Über den YouTube-Channel der Volkshochschule Köln können Sie am Dienstag, 24. November, ab 18.30 Uhr auf den dort angezeigten Livestream klicken. (red)

Frau Griese, was wünschen Sie sich auf politischer Ebene?

Griese: Es muss viel mehr Angebote für alte Frauen, die selbst noch von Gewalterfahrungen im Krieg betroffen sind, geben. In NRW gab es eine Landesfachstelle „Trauma und Leben im Alter“, die von der konservativen Landesregierung leider wieder abgeschafft wurde, nachdem sie gerade erst aufgebaut worden war. Seit einigen Jahren gibt es in Köln Paula e.V, eine Beratungsstelle für Frauen ab 60 Jahren, an die sich auch Fachkräfte aus Pflegeheimen oder Familienangehörige wenden können. Diese wird aber bisher nur ehrenamtlich betrieben. Insgesamt sehe ich hier keinen großen politischen Willen, solche Angebote auszubauen.

Warum kommen Gewalterfahrungen im Alter wieder hoch?

Griese: Erinnerungen an früher bekommen im Alter eine ganz andere, neue Lebendigkeit und damit kommen auch lange unterdrückte Erfahrungen wieder hoch. Es kann aber auch passieren, dass eine Seniorin im Altenheim gegen ihren Willen bei der Pflege angefasst wird, vielleicht auch noch von einem männlichen Pfleger. Solche Erlebnisse können zurückliegende Gewalterfahrungen triggern und retraumatisieren. Die Frauen sind dann extrem belastet und die Angehörigen oder Pflegekräfte oft hilflos. Da darf man einfach nicht sagen: Das sind alte Frauen, da kann man nicht mehr viel machen. Es ist nie zu spät, Frauen ihre Würde zu geben und sie mit ihrem Schmerz nicht allein zu lassen.

Das Gespräch führte Sarah Brasack

KStA abonnieren