Wohin treibt die Partei?Was die Kölner Basis zum Dümpeln der SPD sagt

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Wohin entwickelt sich die Kölner SPD?

Köln – Der Mettigel steht bei der Weihnachtsfeier des Ortsvereins Südstadt auf einer Papierdecke neben Goudabrötchen, Fleischwurst und Nudelsalat mit Mayonnaise. Christoph Wieman macht Fotos von Kurt Trinkaus (92), der für 50 Jahre in der Partei geehrt wird. „Wir müssen uns ein bisschen beeilen, liebe Genossen, sonst läuft der Mettigel weg“, sagt der Ortsvereinsvorsitzende Tim Kremer.

Wieman lacht und setzt die Kamera wieder an. Mit seinen 77 Jahren kümmert er sich um die Internetseite des Vereins, „eigentlich sollten das Jüngere machen“. Für ein längeres Gespräch schlägt er das Restaurant El Greco am Ubierring vor, weil sich auch der Ortsverein hier regelmäßig trifft. Das stille Wasser kostet 1,30 Euro, Currywurst mit Pommes 4,80 Euro, trotzdem ist es im El Greco meistens leer.

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Christoph Wieman (77): „Die 15 Prozent sind ein Ausdruck von Schadenfreude.“

Ob die SPD ein Anachronismus sei, überholt vom Zeitgeist, irgendwie sympathisch, gute Ideen, ordentliche Arbeit in Berlin, aber ohne Zukunft? „Ich hoffe nicht“, sagt der Kommunalpolitiker. „Solidarität darf doch kein Auslaufmodell sein!“ Als Christoph Wieman 1967 in die SPD eintrat, nahm er an den Demonstrationen gegen den Vietnam-Krieg teil. Zwei Jahre später wurde Willy Brandt Kanzler. Die SPD stand für Weltoffenheit, eine Hinwendung zu Europa, die Aussöhnung mit dem Osten – ein modernes Land. Für was steht die SPD heute?

„Noch immer für soziale Gerechtigkeit“, glaubt Wieman. Ob das reiche, um eines Tages wieder Wahlen zu gewinnen? „Ich bin verhalten optimistisch. Andrea Nahles bemüht sich in Berlin um neue Ansätze. Wir haben viele Themen der großen Koalition gesetzt. Wir sind immer noch für die Menschen da. Wir sind immer noch die größte Partei.“ Nahles bemüht sich, wir sind noch da, haben viele Themen gesetzt. Klingt nach: Drei minus mit Rücksicht auf die Eltern. Hoffen, dass der Mettigel nicht wegläuft. Aber er schwitzt schon ziemlich bedenklich.

„SPD ist Currywurst”

Erik Flügge ist vor sieben Jahren bekannt geworden, als er mit dem Slogan „SPD ist Currywurst“ einen Ideenwettbewerb der Landespartei gewann – und mit wenigen Worten viel Aufmerksamkeit auf sich zog. Ein Trend, der im Zeitalter von Twitter, Facebook und Instagram für Parteien immer bedeutsamer wird: Ein US-Präsident macht mit einem „brillanten wie erschreckenden“ (O-Ton Flügge) Twitter-Auftritt Weltpolitik. Ein Bürgermeister wie der Grünen-Politiker Boris Palmer polarisiert mit täglichen Beiträgen– und bleibt bei Tausenden im Gespräch. „Das ist wichtig“, sagt Politikberater Flügge, „Politiker müssen präsent bleiben, man muss sich an sie erinnern, ihre Namen kennen.“ In Zeiten exzessiven digitalen Medienkonsums „geht es auch darum, sich abzuheben und aufzufallen“.

Für eine Partei, die sich über Gemeinschaft und Solidarität definiert, sei der mit Egoismus und Individualisierung getränkte Zeitgeist Problem und Chance zugleich, glaubt Flügge: „Ein Problem, weil der globalisierte Kapitalismus Egoismus und Neoliberalismus weiter befördert, eine Chance, weil eine Sehnsucht nach Gerechtigkeit und Miteinander wächst.“ 

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Erik Flügge (32): „Die SPD muss Kooperation, Empathie und Solidarität belohnen.“

Flügge, der an der Kampagne des niedersächsischen Ministerpräsidenten Stephan Weil mitarbeitete, hat die Kaffeemanufaktur Heilandt im Belgischen Viertel als Treffpunkt vorgeschlagen. Sein Büro in einer ehemaligen Kartonagefabrik von 4711, in der eine überlebensgroße Martin-Schulz-Figur aus Pappe in einer Ecke verstaubt, liegt gegenüber. An den Tischen des Cafés sitzen Männer mit Bärten und Undercut, Frauen mit Schlaghosen und Kunstfellmützen.

In seinem Manifest „SPD erneuern“ kritisiert Flügge die erste große Koalition 2005 als „große Koalition der Ängstlichkeit“, den „elitären Duktus“ des Kanzlerkandidaten Steinbrück 2010, die ewige Selbstanklage für die Agenda 2010, das Gejammer; beanstandet, dass nicht ausreichend darüber diskutiert werde, wie die viel beschworene Erneuerung überhaupt gelingen soll?

SPD muss Trauma überwinden

Wenn es nach dem Politikwissenschaftler und Bestsellerautor geht, müsste die SPD zuerst ihr Trauma überwinden, mit den Hartz-IV-Gesetzen große Teile ihrer Stammwähler verloren zu haben. Sodann ginge es darum, sich wieder als Kämpferin für soziale und ökonomische Gleichheit zu begreifen.

„Kooperation, Empathie und Solidarität zu belohnen, darum geht es für die SPD“, sagt Flügge. „Rentenpunkte für ehrenamtliche Tätigkeiten, längerer Anspruch auf Arbeitslosengeld durch soziales Engagement, Betriebe steuerlich belohnen, bei denen die Gehälter von Vorständen und normalen Arbeitnehmern nicht weit auseinander liegen.

Mehr Gemeinschaft, weniger Abgaben. Wer solidarisch ist, wird belohnt, wer nur sein Ego-Ding macht, zahlt drauf.“ Daraus lasse sich ein starkes politisches Programm machen. Dazu brauche es Charaktere, die die Inhalte glaubhaft vertreten.

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Monika Schultes (68): „Glauben Sie bloß nicht, dass uns die Puste ausgeht! Das Gegenteil ist richtig."

Monika Schultes steht vor den Hochhäusern des Brennpunktviertels Görlinger Zentrum. Mit der schwarzen Luftpumpe ist der SPD-Ballon in Sekunden gefüllt. „Glauben Sie bloß nicht, dass uns die Puste ausgeht!“, sagt die 68-jährige, „das Gegenteil ist richtig!“

Im Bürgerschaftshaus, das Schultes 30 Jahre geleitet hat, kosten Filterkaffee und Brötchen mit Lachsverschnitt 90 Cent, der Laden ist gesteckt voll. Monika Schultes, kurz gewelltes Haar mit blonden Strähnen, Strickjacke mit goldenen Fäden, setzt sich an einen Tisch mit Senioren und redet über die Zukunft der Hochhäuser und einen Kiosk, der 24 Stunden geöffnet hat „und Menschen anlockt, die wir hier nicht haben wollen“.

Schultes ist stets zur Stelle

Den Wahlkreis habe sie „immer direkt geholt“. Wenn jemand eine Stromrechnung nicht bezahlen kann, eine Räumungsklage bekommen hat, Jugendliche auf dem Spielplatz als Bedrohung erlebt, Ratten im Keller hat, den Hartz-IV-Bescheid nicht versteht, ist Schultes zur Stelle. Wenn ihr Menschen sagen: „Die Flüchtlinge nehmen uns die Arbeit weg!“ sagt Schultes schon mal: „Du hast in deinem Leben noch nie gearbeitet! Deine Wohnung bezahlen wir. Du hast Strom und warmes Wasser, bezahlen wir! Was willst Du? Was nehmen diese Leute dir weg?“ Die SPD stehe nicht mehr dafür, dass Vermögen höher besteuert werden, die Arbeiterklientel sei weg. „Und das ist dramatisch.“

Monika Schultes steht für alte SPD-Tugenden: Gemeinwohl, Solidarität, Malochen. Obwohl ihre Gesundheit stark angegriffen ist: Vor zwei Jahren erhielt sie die Diagnose Lungenkrebs. Wenn sie nicht sofort mit dem Rauchen aufhöre, überlebe sie das Jahr nicht, sagte der Arzt. Schultes hörte auf und arbeitete weiter, im Bürgerhaus wie im Stadtrat, im Sozial-, Jugendhilfe- und Hauptausschuss, beim LVR, bei Veranstaltungen und in der Fußgängerzone, „70, 80 Termine im Jahr“. Zwei Wochen nach dem Treffen ereilt Schultes ein Schlaganfall. Als Gesicht der Partei fällt sie jetzt aus.

Für die Kölner SPD sei das nicht nur menschlich ein Verlust, sagt Erik Flügge. „Kaum jemand verkörpert das, wofür die SPD stehen will, glaubwürdiger als Monika.“ Hätte eine Frau wie sie noch einen Social-Media-Auftritt mit polarisierenden Twitter- und Facebook-Posts jeden Tag, „sie könnte so etwas wie ein Star der Partei sein“. 

Mehr Mitbestimmungsrechte für die Basis

Flügge sagt, die Basis der Partei brauche mehr Mitbestimmungsrechte – nicht in Form von Mitgliederabstimmungen wie bei der Frage nach dem erneuten Eintritt in die großen Koalition, sondern direkte Mitsprache über Themen. „Wenn 20 Ortsverbände einen Antrag unterstützen, müsste der auch auf dem Bundesparteitag besprochen werden.“ Stattdessen entscheiden die Vorstandsgremien über die Themen. „Das ist für die Mitglieder in den Ortsvereinen nicht unbedingt motivierend.“

Vor dem Spendenskandal 1999 hatte die SPD in Köln über 9000 Mitglieder. 20 Jahre später sind es 6084. Das sind immerhin 770 mehr als vor zwei Jahren: Der Sternschnuppen-Hype um den Kanzlerkandidaten Martin Schulz und das Votum über die Große Koalition haben der Partei viele Eintritte beschert. Bundesweit hat die SPD weiterhin mehr Mitglieder als die CDU (437 750 gegenüber 417 550) – wenn am Sonntag Bundestagswahl wäre, würden sie allerdings nur 13 bis 15 Prozent wählen, die CDU käme auf 30 bis 32 Prozent.

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Die Alten wie Wieman und Schultes stimmt das traurig. Malika Jakobs-Neumeier sieht es pragmatischer. „Wir dürfen nicht ständig zurückdenken an alte Zeiten“, sagt die 19-Jährige. „Es braucht nicht 35 Prozent, um eine starke Partei zu sein.“ Jakobs-Neumeier ging vor fünf Jahren zu den Jusos, „um aktiv etwas gegen gesellschaftliche Missstände zu tun“. Vor einem Jahr wählte der Juso-Unterbezirk (mit 1300 Mitgliedern der größte in Deutschland) sie zur Vorsitzenden. 

Die Linken seien „zu oft nur dagegen“, die Grünen „manchmal zu nah an der FDP“, sagt Jakobs-Neumeier bei Pfefferminztee und Independent-Musik im Café Duddel an der Uni. „Die Idee der SPD, für alle da zu sein, finde ich am überzeugendsten.“ Also organisiert sie für die Jusos Veranstaltungen zum Thema Gleichberechtigung und Bildung. Also verteilt sie Flyer auf dem Lenauplatz, Kondome und Broschüren beim Tag der Jugend im Rathaus. Also setzt sie sich für eine „Schule für alle“ ein. Jakobs-Neumeier organisiert Diskussionen mit Andersdenkenden, „weil das Schlimmste an Merkels Politik ist, dass man nicht mehr redet und nicht mehr streitet“. An drei bis fünf Abenden pro Woche war sie 2018 für die Jusos unterwegs, führte über 700 Telefonate, sprach auf Podien, warb junge Auszubildende an, „weil die Jusos an extremer Akademisierung leiden“.

Proteste für den Hambacher Forst

Malika Jakobs-Neumeier hat beobachtet, dass das Interesse an Politik „bei jungen Menschen eher mehr wird“. Dafür stünden die Proteste für den Hambacher Forst und die Friday-for-future-Demos der Schüler in ganz Deutschland. „Leider nimmt das Interesse an Parteien aber eher ab.“ Beim Tag der Jugend im Rathausfoyer ist der meiste Betrieb beim Stand der Grünen, bei den Jusos stehen einige, bei den jungen Liberalen ist niemand, die JU ist gar nicht erst gekommen.

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Malika Jakobs-Neumeier (19): „Die Idee der SPD, für alle da zu sein, finde ich am überzeugensten.“

Lange hat die Abiturientin mit sich gerungen, ob sie bei der Wahl für den Juso-Vorsitz wieder antritt. Sie hat sich dagegen entschieden. Sie wolle sich auf die Schule und dann aufs Studium konzentrieren, sagt sie. „Um in der Politik wirklich etwas zu erreichen, muss ich noch mehr Erfahrung sammeln.“

Die Sozialdemokraten in Köln sieht die 19-Jährige auf dem richtigen Weg: „Zum Führungsteam der Kölner SPD werden künftig vier Jusos gehören.“ Das motiviere sie, sich „weiter für, Gemeinschaft, Solidarität, Chancengleichheit und Weltoffenheit einsetzen“. Konzentrieren will sie sich auf ihre Lieblingsthemen Bildung und Gleichberechtigung.

Politikberater Flügge glaubt, die SPD brauche eine Klärung: Im Godesberger Programm habe es die die Partei geschafft, den Widerspruch zwischen Sozialismus und Kapitalismus zu überwinden.

Aufstieg zur Volkspartei

Das Ergebnis sei der Aufstieg zur Volkspartei gewesen. „Heute muss die Partei den Widerspruch zwischen Weltoffenheit und lokaler Gemeinschaft lösen. Dafür muss man aber erst einmal klar benennen, wo man in dieser Frage steht. Die Grünen und die AfD haben das jeweils auch geschafft.“

Vielleicht ist die SPD im Moment im Bund wie in Köln eher zu viel als zu wenig: Mettigel in der Südstadt, veganer Latte Macchiato im Belgischen Viertel, Lachsverschnitt im Görlinger Zentrum, Kondome verteilen im Rathaus, Wutbürger eindampfen in Bocklemünd. Lokale Gemeinschaft und Weltoffenheit.  Zum Zeitgeist passt die SPD in Köln wie im ganzen Land in ihrer aktuellen Verfassung nicht mehr so recht. Das kann eine Chance sein, weil der Zeitgeist mitunter ein kühler Egoist ist. Oder der Niedergang.

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