Ethikrat-Vorsitzende Woopen„Diejenigen behandeln, die überhaupt rettbar sind“

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Medizinisches Personal behandeln am Gang der Intensivstation des Krankenhauses von Brescia einen Patienten.

  • Die Gesetzmäßigkeiten der Ethik stoßen in der Coronakrise an ihre Grenzen. Situationen, wie sie sich täglich in italienischen Krankenhäusern abspielen, drohen auch in Deutschland.
  • Wer entscheidet bei einem Behandlungsenpass darüber, ob ein Patient versorgt wird oder nicht? Dürfen Ärzte unterscheiden zwischen rettbaren und hoffnungslosen Fällen?
  • „Das Recht auf Gesundheitsversorgung gilt für alle gleichermaßen. Das bedeutet aber nicht, dass bei knappen Ressourcen nicht Abwägungen getroffen werden können und müssen“, sagt Medizinerin Christiane Woopen.
  • Die Palliativmediziner in ganz Deutschland bereiteten sich auf das schimmste Szenario vor.

Frau Professorin Woopen, haben Sie als Ethikerin zurzeit Angst um Ihren Berufsstand?

Christiane Woopen: Warum sollte ich? Der moralische Kompass der Ethik ist doch in Zeiten wie diesen besonders wichtig.

Nun, weil alle ethischen Markierungen und Grenzzäune in einer möglichen Katastrophe fortgespült und weggerissen zu werden drohen. Denken Sie an Italien, wo nicht mehr alle Schwerstkranken behandelt werden können.

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Gerade dann kommt es auf ethisch fundierte Abwägungen an. Wenn man derart tragische Entscheidungen treffen muss, wer noch behandelt wird und wer nicht, sind viele Aspekte zu bedenken. Als grobe Orientierung gilt zunächst, dass diejenigen behandelt werden, die überhaupt rettbar sind. Dann zählen auch die Dringlichkeit und die Überlebenschancen dazu.

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Christiane Woopen

Und die anderen müssen qualvoll sterben?

Das darf nicht passieren. Sie müssen palliativmedizinisch begleitet werden. Das System ist bei uns zum Glück inzwischen gut ausgestattet, so dass uns das gelingen kann. Dazu braucht es auch psychologische und seelsorgerliche Betreuung der Patienten, der Angehörigen und des Personals, damit die seelische Kraft für solche Ausnahmesituationen überhaupt reicht. Die Palliativmediziner in ganz Deutschland bereiten sich vor – natürlich in der Hoffnung, dass es gar nicht so weit kommt.

Zur Person

Christiane Woopen, geboren 1962 in Köln, ist Ärztin und Medizinethikerin. Seit 2009 ist sie Professorin für Ethik und Theorie der Medizin an der Universität zu Köln. Seit 2017 ist sie Vorsitzende des Europäischen Ethikrats. Zuvor war sie Mitglied im Nationalen Ethikrat und in dessen Nachfolge-Organisation, dem Deutschen Ethikrat. Dieses Gremium vertrat sie von 2012 bis 2016 als Vorsitzende. Überdies gehört Woopen der Datenethik-Kommission der Bundesregierung an. (jf)

Die ethische Bewährungsprobe hat die Gesellschaft ja nicht einmal als Mini im Supermarkt unfallfrei bestanden.

Generalisierung ist hier meines Erachtens falsch. Natürlich erleben wir rücksichtsloses Kaufverhalten – ob aus Egoismus oder auch aus Panik. Und natürlich erleben wir Exzesse, wo insbesondere junge Leute sich in der Öffentlichkeit ignorant und arrogant benehmen, als gäbe es keine lebensbedrohliche Gefahr für unzählige Menschen. Dem steht aber ein großer Schatz an Hilfsbereitschaft und Ideenreichtum mit hinreißenden Zeichen der Zuwendung und Solidarität gegenüber. Ich habe den Eindruck, wir sind im Moment auf einem guten Weg. Aber umso mehr müssen wir jetzt aufpassen, dass wir auch den langfristigen Stresstest bestehen. Dafür muss der Staat seine Hilfsversprechen und seine Unterstützungspakete sehr schnell auf die Straße bringen. Und wir alle müssen uns so verhalten, dass das Gesundheitssystem nicht überfordert wird. Denn das wären die Stellen, an denen die gesellschaftliche Stimmung in Wut und Verzweiflung umkippen könnte: Wenn das Gesundheitssystem überfordert wäre, so dass Patienten, die dringend Hilfe benötigen, nicht mehr versorgt werden könnten, und wenn sich Menschen in wirtschaftlicher Not vom Staat allein gelassen fühlten und ihren Lebensunterhalt nicht mehr bestreiten könnten.

Ist die Frage ethisch verwerflich, ob die volkswirtschaftlichen Schäden und die Kosten, die auf jeden Einzelnen durchschlagen, nicht zu hoch sind für das Ziel, die Pandemie einzudämmen? Oder anders gefragt: Wie viel darf ein Menschenleben wert sein?

Es wird oft gesagt, dass die Abwägung zwischen ökonomischer Leistungsfähigkeit und der Rettung von Menschenleben stattfinde. Ich glaube, dem liegt eine noch tiefere, grundsätzlichere Abwägung zugrunde, nämlich die zwischen Freiheit und Wohlstand auf der einen Seite und gesellschaftlicher Solidarität und Stabilität auf der anderen. Wir bringen Opfer und wir sind bereit, vorübergehend Einschränkungen unserer Freiheit in Kauf zu nehmen, um eine Gesellschaft zu sein, die in einer großen Krise für die Schwächsten da ist.

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Ist jeder Mensch wirklich gleich viel wert?

Die Würde jedes Menschen …

… ist unantastbar, ja.

Ich stelle das so heraus, weil dieses Prinzip unserer Verfassung, das zugleich die Grundlage der Ethik ist, unverbrüchlich ist. Der Wert jedes menschlichen Lebens ist gleich, er lässt sich mit nichts verrechnen und durch nichts aufwiegen.

Also würde die Bundeskanzlerin medizinisch gleich behandelt wie Sie oder ich?

Das Recht auf Gesundheitsversorgung gilt für alle gleichermaßen. Das bedeutet aber nicht, dass bei knappen Ressourcen nicht Abwägungen getroffen werden können und müssen, die sich an anderen Aspekten als dem Lebenswert orientieren: Müssen wir beispielsweise jemanden besonders schützen, weil er für das Funktionieren des Staates und gerade in einer Krise für alle Entscheidungen im Sinne der Bürgerinnen und Bürger unverzichtbar ist?

Dann wird praktisch eben doch eine Selektion vorgenommen.

Das Wort würde ich nicht verwenden, es geht um eine Priorisierung, zum Beispiel bei der Verteilung knapper medizinischer Geräte. Hier gilt erst einmal das Vor-Ort-Prinzip. Konkret: Ist die Versorgung der Bevölkerung in Deutschland im Grundsatz gesichert, dann können und sollten freie Ressourcen auch anderen zur Verfügung gestellt werden, so wie es ja derzeit Baden-Württemberg für schwerkranke Patienten aus Frankreich tut.

Vor ein paar Wochen erst hat das Bundesverfassungsgericht die Entscheidung für die Selbsttötung als Ausdruck der Freiheit herausgestellt. Fällt der Gesellschaft die Erleichterung des assistierten Suizids in der Coronakrise auf die Füße?

Diesen Zusammenhang herzustellen, halte ich für schwierig. Zielt ihre Frage darauf ab, dass sich alte, kranke oder lebensmüde Menschen gerade jetzt, sozusagen aus Angst vor vermeintlich drohenden Versorgungsengpässen, dazu entschließen könnten, ihrem Leben ein Ende zu setzen?

Kein allzu fernliegender Gedanke, oder?

Das wäre allerdings noch kein selbstbestimmter Entschluss. Hier wäre vor allem die Verantwortung derer entscheidend, die Beihilfe zu leisten hätten. Denn es verhält sich ja so, dass das Bundesverfassungsgericht zwar den hohen Wert der Freiheit betont hat, aber nicht einer Freiheit ohne Verantwortung. Gerade jetzt in der Krise bedeutet Verantwortung etwa auch, für Menschen da zu sein, die verzweifelt sind, ihnen eine Perspektive zu geben. Ich teile im Übrigen nicht die zuweilen geäußerte Kritik, das Bundesverfassungsgericht habe zu sehr das Individuum mit seinen Freiheiten in den Blick genommen und den Schutz des Lebens vernachlässigt.

Aber brauchen jetzt nicht alle Menschen und gerade die Schwachen, Ängstlichen, Lebensmüden Schutz – durch die Gewissheit, dass sie leben sollen und dürfen?

Natürlich. Diesen Schutz müssen wir aber anders gewährleisten als durch das Verbot, selbstbestimmt entscheiden zu können. Nach meinem Verständnis ist es das, was die Richter gesagt haben. Wir brauchen jetzt Gesetze, um gesellschaftliche Entwicklungen zu verhindern, die wir nicht wollen, etwa eine Gesellschaft, bei der die Beihilfe zur Selbsttötung ein selbstverständliches Angebot für das Sterben wird. Der Deutsche Ethikrat hatte schon 2014 empfohlen, lieber die Suizidprävention gesetzlich zu stärken, statt ein strafrechtliches Verbot einzuführen.

Das Urteil aus Karlsruhe ist also corona-fest?

Ich denke schon, weil es die Selbstbestimmung in den Mittelpunkt stellt. Wenn nun ein Mensch in einer Krise wie dieser aus akuter Existenzangst um Beihilfe zum Suizid bitten würde, müsste man sehr genau hinschauen, wie selbstbestimmt ein solcher Wunsch tatsächlich wäre und man müsste ihm Möglichkeiten eröffnen, wie er diese Krise lebensorientiert bewältigen kann.

Wir nehmen heute schon Einschränkungen unserer Freiheiten hin, die wir vor wenigen Wochen noch nicht für möglich gehalten hätten. Sehen Sie auch für die Demokratie die Gefahr von Kippmomenten?

Wir haben den unschätzbaren Vorteil, dass alle Maßnahmen von Regierungen in Bund und Ländern getroffen werden, die unverbrüchlich zur freiheitlichen Demokratie stehen. Die Bundeskanzlerin und die Ministerpräsidenten wägen aus diesem Grund immer wieder neu ab. Sie werden Einschränkungen sofort aufheben, wenn sie nicht mehr erforderlich sind, und sie werden sie nicht für einen demokratie- und freiheitsfeindlichen Machtausbau ausnutzen. In den Händen anderer Machthaber hätte ich bei allem, was gerade passiert, die größten Sorgen. Gleichwohl darf uns nicht das Bewusstsein dafür verloren gehen, in welchem Ausmaß hier in Grundrechte wie die Versammlungs- und Bewegungsfreiheit eingegriffen wird. Auch für diesen Bereich gilt: Die gesellschaftliche Stimmung kann kippen.

Nun richten sich alle Hoffnungen auf einen Impfstoff gegen das Coronavirus oder Medikamente. Dürfen Abstriche von den Standards für deren Entwicklung gemacht werden, womöglich auch Menschenversuche im weiteren Sinn?

Die sonst geltenden Verfahren für Studien und Genehmigungen sollten angesichts der weltweiten Bedrohungslage angepasst werden. Das ist sogar dringend geboten, aber unter kontrollierten Bedingungen und bei Einhaltung ethischer Standards. Für klinische Studien am Menschen gibt es solche forschungsethischen Standards, die über Jahre und Jahrzehnte hinweg entwickelt und praktiziert worden sind. Bei Verträglichkeitsprüfungen an einem gesunden Probanden etwa müssen andere Maßstäbe gelten als bei Menschen, die bereits schwer erkrankt sind. Aber: Besondere Situationen erfordern – auch hier – besondere Maßnahmen. Und die Bereitschaft von Menschen, an Studien zur Erprobung etwa von Impfstoffen gegen das Coronavirus teilzunehmen, ist auch eine Art, Solidarität zu zeigen.

Das Gespräch führte Joachim Frank

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