Die Europäische Rundfunkunion berät nach Boykott-Drohungen gegen Israel über den nächsten Eurovision Song Contest.
ESC am AbgrundIst das bisschen Frieden in Europa Geschichte?

Der Countertenor JJ (Johannes Pietsch) hat den vergangenen ESC für Österreich gewonnen.
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Man soll, schrieb Marcel Bezençon, dem Fernsehen nicht die Verantwortung für die Probleme einer Gesellschaft zuschieben. Es biete „nur das Spiegelbild einer unruhigen Epoche“. Der Schweizer TV-Pionier gilt als Vater des Eurovision Song Contest. Auf der Suche nach Inhalten, die das Publikum sämtlicher an der Europäischen Rundfunkunion (EBU) beteiligten Länder ansprechen könnten, hatte Bezençon 1955 einen Schlagerwettbewerb nach Art des italienischen Sanremo-Festivals vorgeschlagen. Schon ein halbes Jahr später fand im Teatro Kursaal in Lugano der erste „Gran Premio Eurovisione della Canzone Europea“ statt, wie er anfangs hieß.
Im Siegertitel „Refrain“ weinte Lys Assia einer alten Jugendliebe nach, vor den Fernsehgeräten durfte man noch einmal von einer „Epoche des Weltvertrauens“ träumen, wie sie Stefan Zweig in „Die Welt von Gestern“ für das grenzenlose Europa vor den Weltkriegen beschrieben hatte. Die scheint 69 Jahre nach dem ersten Eurovision Song Contest wieder denkbar fern. Er mag lediglich ein Spiegelbild unserer unruhigen Epoche sein, doch aktuell droht das Gesangsturnier unter dem Druck politischer Verwerfungen zu zerbrechen.
Sollte Israel in Wien teilnehmen, will Spanien den ESC boykottieren
Gerade berät die EBU auf ihrer Generalversammlung in Genf über die Teilnahme Israels am nächsten ESC, der am 16. Mai 2026 in Wien stattfinden soll. Diese hat einen anscheinend unüberwindbaren Spalt zwischen die Mitglieder der Rundfunkunion getrieben. José Pablo López, der Chef des spanischen öffentlich-rechtlichen Senders RTVE, spricht von einem „Völkermord“, den Israel mit seinem Vorgehen im Gaza-Streifen begehe. Der ESC möge ein Wettbewerb sein, „aber Menschenrechte sind kein Wettbewerb“, so López. „Jedes andere Land, das sich so verhalten hätte, wäre sanktioniert worden.“
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Sollte Israel in Wien teilnehmen, will Spanien den ESC boykottieren. Und das, obwohl es zu den „Big Five“ gehört, den fünf großen Beitragszahlern der EBU, deren Teilnahme am Wettbewerb garantiert ist. Irland, die Niederlande, Slowenien und Island haben sich dieser Position angeschlossen. Auch Finnland, Schweden und Belgien überlegen, ihre Teilnahme abzusagen.

Yuval Raphael aus Israel kommt mit der Landesfahne bei einer Probe für die Finalshow des 69. Eurovision Song Contest in der Arena St. Jakobshalle auf die Bühne.
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Friedrich Merz (CDU) dagegen hat in der ARD, für den Fall, dass Israel vom ESC ausgeschlossen wird, einen Rückzug Deutschlands befürwortet. Er halte es für einen Skandal, dass darüber überhaupt diskutiert werde, sagte der Bundeskanzler: „Israel gehört dazu.“ Sein parteiloser Kulturstaatsminister Wolfram Weimer findet es „bestürzend zu sehen, dass Künstlerinnen und Künstler in Europa ausgegrenzt werden, alleine weil sie Israelis, weil sie Juden sind. Dies widerspricht den europäischen Grundwerten und der Freiheit der Kunst zutiefst.“ Auch er macht die deutsche Teilnahme von derjenigen Israels abhängig.
Wie will die EBU zwischen diesen unvereinbaren Positionen vermitteln? Ein Kompromiss scheint nicht möglich. Vor wenigen Tagen erst hatte die Rundfunkunion einige Änderungen bei den Abstimmungsregeln für den ESC angekündigt. In Wien, hieß es, soll eine Person nur noch zehnmal abstimmen können – online, telefonisch oder per SMS. Vorher waren es zwanzigmal. Die professionellen Jurys sollen wieder bereits im Halbfinale mit abstimmen (das hatte man erst 2023 abgeschafft). Außerdem sollen bestehende Regeln verstärkt werden, die den Missbrauch des Wettbewerbs zum Beispiel durch Liedtexte oder Inszenierung verhindern sollen. Und es werde von „unangemessenen PR-Kampagnen“ abgeraten, die „von Dritten wie etwa Regierungen oder Regierungsagenturen unternommen und unterstützt werden“.
Regeländerungen als Zugeständnis an die Israel-Kritiker
Damit wollte man den israelkritischen Ländern ein Entgegenkommen signalisieren. Beim diesjährigen ESC in Basel hatte die israelische Sängerin Yuval Raphael – eine Überlebende des Hamas-Massakers während des Supernova-Festivals am 7. Oktober 2023 – überraschend das Publikumsvoting gewonnen und damit insgesamt den zweiten Platz hinter Österreich belegt. Zuvor hatte der israelische Rundfunk mithilfe einer staatlichen Agentur in einer aufwendigen Werbekampagne zur Wahl seines ESC-Beitrags mit allen zur Verfügung stehenden Stimmen aufgerufen.
Der Gewinner von Basel, der österreichische Countertenor JJ, bürgerlich Johannes Pietsch, sorgte kurze Zeit nach seinem Sieg für einen Eklat, als er gegenüber einer spanischen Zeitung erklärte, er würde sich wünschen, dass der Eurovision Song Contest nächstes Jahr ohne Israel stattfinde. Das Land sei ein „Aggressor“ genau wie Russland, das seit seinem Angriff auf die Ukraine 2022 vom Wettbewerb ausgeschlossen ist.
Ein Vergleich, den manche antisemitisch nannten. Die Antwort der EBU ist klar: Beim ESC treten nicht Staaten, sondern öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalten gegeneinander an. Und während man bei der israelischen Rundfunkgesellschaft Kan die Staatsferne als gegeben ansieht, könne man das von der entsprechenden russischen Sendeanstalt keinesfalls behaupten.
Am Freitag müssen die in der EBU zusammengeschlossenen Rundfunkanstalten entscheiden, ob sie dieses Maßnahmenpaket – das die Streitigkeiten um die Teilnahme Israels entschärfen soll – für ausreichend halten. Wenn nicht, wird eine Abstimmung über die Teilnahme Israels kaum noch zu verhindern sein – und diese Zerreißprobe wiederum könnte das Ende des zumindest ein bisschen Frieden stiftenden Wettbewerbs bedeuten, ausgerechnet zur 70. Ausgabe.
Mit diesen Beratungen, kritisierte RTVA-Chef José Pablo López, setze sich die EBU den größten internen Spannungen ihrer Geschichte aus: „So weit hätte es nie kommen dürfen.“ Dabei hatte die Hardliner-Position des Spaniers wesentlich zu diesen Spannungen beigetragen.
Konflikte gab es auch in den Jahrzehnten zuvor. So unpolitisch, wie gerne behauptet wird, war der ESC nie. Aber doch mehr als nur ein gesellschaftliches Spiegelbild, nämlich ein Rückzugsraum, ein sicherer Hafen, ein safe space gerade für queere Minderheiten, die in ihren Ländern der Diskriminierung ausgesetzt sind. Jetzt, wo alles politisch ist, wurde selbst das Weltvertrauen ins bunte Wettsingen erschüttert, erlebt Marcel Bezençons paneuropäische Idee ihr Waterloo.

