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Neues ABBA-AlbumDa flieht die Familie vom Frühstückstisch

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Agnetha Fältskog (l.) und Anni-Frid Lyngstad im Aufnahmestudio

Stockholm – Wenn Pop der klebrige Stoff ist, der uns alle zusammenhält, bleiben ABBA seine Meisterproduzenten, im Besitz der erfolgreichsten, befriedigsten Rezeptur.

Doch als ich am Freitagmorgen „Voyage“ auflege — das neunte, nach einer 40-jährigen Pause erschienene Studioalbum der Schweden — flieht meine Familie bereits beim dritten Song entnervt vom Frühstückstisch.

Sex am Weihnachtsmorgen

Zugegeben, „Little Things“ ist der absolute Tiefpunkt der zehn neuen Stücke. Ein verfrühter Weihnachtssong, in einem überzuckerten Kinderchor gipfelnd, der von Elfen, der Großmutter und neuem Spielzeug schwärmt, während Anni-Frid Lyngstad mit festlicher Ernsthaftigkeit die Möglichkeit ungestörten Morgenbeischlafs der Eltern insinuiert.

Man könnte wahrscheinlich denselben Effekt erzielen, indem man den Inhalt von drei Pralinenschachteln verzerrt und sich dabei einen Aufklärungsfilm der frühen 1970er anschaut. Jedenfalls wird man das Experiment nicht wiederholen. Und ich muss mir den Rest des Albums alleine anhören.

Die Traurigkeits-Königin

Das ist nur halb so schlimm. Singt Agnetha Fältskog gleich anschließend in „Don’t Shut Me Down“ wehmütig vom verklungenen Kinderlachen im Park, von ihrem Entschluss, an der Apartmenttür des Partners zu klingen, den sie vor längerer Zeit verlassen hat, es noch einmal gemeinsam zu versuchen, wirkt das wie die versöhnliche Fortschreibung der bitteren Scheidungslieder, mit denen die beiden Paare von ABBA sich inmitten ihrer eigenen Eheschlachten Anfang der 1980er von der Welt verabschiedet hatten.

Wir sitzen mit Agneta, dieser Königin peppiger Betrübtheit, im verlassenen Park, so wie wir einst mit ihr traurig zwischen gepackten Umzugskartons wandelten. „The Winner Takes It All“: Aber hier sind wir alle Gewinner. Ein Klotz, wer da kein Tränchen vergießt.

In der Sorgerechts-Disco

Der zweite Versuch, die Möglichkeit, selbst spät im Leben noch die entscheidende Kehrtwende zu schaffen, ist das übergreifende Thema dieser neuen ABBA-Songs. Er wird zum Auftakt des Albums feierlich heraufbeschworen in „I Still Have Faith in You“, der vorab veröffentlichten Ballade, in der Anni-Frid ganz unkokett fragt: „Habe ich es noch drauf?“ und man ihr enthusiastisch beipflichten will, bevor sie das selber tut. Er schenkt uns Kuriositäten wie „Keep an Eye on Dan“, der wahrscheinlich einzigen Uptempo-Nummer über geteiltes Sorgerecht. Und vor allem das fantastische „No Doubt About It“, den späten Höhepunkt des Albums, in dem Stimmungsschwankungen in Tempi-Wechsel übersetzt werden und späte Reue in nostalgisches Disco-Funkeln: Wenn Agnetha und Anni-Frid zweistimmig singend abheben, wirkt der alte Zauber noch.

Aber der zweite Versuch führt leider auch zu völlig verunglückten Stücken wie „I Can Be That Woman“, in der sich eine gewisse Tammy, die im Arm des entfremdeten Gatten auf der Couch liegt, als treuer Familienhund entpuppt, der im weiteren Verlauf des Liedes als Metapher für die Eheprobleme eines auf den Hund gekommenen Paares herhalten muss.

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Andere Stücke klingen definitiv nach ABBA wie man sie von Tausend schunkeligen Partys kennt und liebt, nach jenen scheinbar naiven Melodien, auf die eben nur Benny Andersson und Björn Ulvaeus verfallen — und die sich anhören, als wären sie schon immer Teil von dir und mir gewesen.

Mit Songs wie „Just a Notion“ oder dem irisch angehauchten „When You Danced With Me“ beschwören sie sogar noch einmal das frühe, unbeschwerte Quartett von „Honey Honey“, „Gimme Gimme Gimme“ oder „SOS“ herauf, aber es sind leicht verstolperte Aufforderungen zum Frohsinn, die sie früher tief im Partykeller vergraben hätten, oder zumindest auf B-Seiten verbannt.

Kitsch am Abgrund

Selbstverständlich waren ABBA immer auch kitschig und oft war die Oberfläche dort am kitschigsten wo der Abgrund am tiefsten war. Und wenn nicht, so war es der Kitsch eines allzu bunt gewebten Fahnenbanners, hochgehalten von einer gewaltigen Armee, die einen dann unweigerlich überrollte.

Was der wiedervereinigten und nach erfolgter Aufnahme gleich wieder getrennten Band auf „Voyage“ fehlt, das ist die innere Überzeugung, der Wille zum Quatsch, der für gute Popmusik unerlässlich ist: „Bumblebee“ beschreibt zwar mit Marschgetrommel, Synthiefanfaren und „Fernando“-Panflöten den Flug der Hummel als pars pro toto für die bedrohten Wunder der Natur – doch als Best-Ager-Beitrag zu Fridays for Future bleibt es geradezu lächerlich zaghaft.

Und die „Ode to Freedom“, mit der „Voyage“ abschließt, zitiert zwar majestätisch getragen einen Walzer aus Tschaikowskis „Schwanensee“ (oder wenigstens die James-Last-Version desselben), handelt tatsächlich aber von der Unmöglichkeit, der flüchtigen Freiheit ein Loblied zu singen. Ganz einfach und unprätentiös fiele seine Freiheits-Ode aus, textet Björn hier, würde er sie jemals schreiben. Was er nicht vorhabe, weil er als reicher Westler („privileged and spoilt for choice“) nur Verdacht auf sich lenkte.

Das nennt man wohl Altersweisheit. Andererseits: Früher hätte er es einfach getan. Und wir hätten alle mitgesungen.

ABBA „Voyage“ ist bei Universal erschienen