Meine RegionMeine Artikel
AboAbonnieren

Ethel Cain in KölnAmerika ist unheimlich geworden – sie ist sein idealer Popstar

Von
4 min
Ethel Cain performing at Eventim Apollo LONDON, ENGLAND - OCTOBER 07: Ethel Cain performing at Eventim Apollo on October 07, 2025 in London, England. CAP/MAR MAR/ Great Britain Copyright: xMartinxHarris/CapitalxPicturesx

Beschwörungen vorm Holzkreuz aus einem abgesägten Strommast: Ethel Cain auf der Bühne.

Ethel Cain dürfte der derzeit ungewöhnlichste Popstar der USA sein – Im Carlswerk Victoria gab sie jetzt ihr Köln-Debüt.

„Oh, danke, danke“, bricht es aus der jungen Frau im vorderen Drittel des ausverkauften Carlswerk Victorias hervor. Gerade hat Ethel Cain ihren nächsten Song ankündigt. Es ist das erste Kölner Konzert der Amerikanerin. Doch nach wenigen Takten muss sie „Sun Bleached Flies“ unterbrechen. Eine Ohnmacht im Publikum. „Gott liebt dich“, predigt die Sängerin, als die Musik wieder Fahrt aufnimmt, „aber nicht genug, um dich zu retten.“

Ethel Cain steht im Fluchtpunkt zweier Aufstell-Hecken auf einer Kanzel in Form eines Holzkreuzes aus einem abgesägten Strommast. Louisiana-Moos hängt in langen Bärten von dessen Querbalken, weht im Bühnennebel, der sie und ihre vier Mitmusiker beständig zu verschlucken droht. Die Inszenierung ist jedenfalls schon mal sehr überzeugend, ursprünglich wollte Cain Filmregisseurin werden. Jetzt kriecht sie auf der Bühne zu Kreuze, das Flackerlicht lässt ihre Bewegungen abgehackt erscheinen, die langen Haare hat sie übers Gesicht geworfen. Gibt es eigentlich auch eine Notrufnummer für Exorzisten?

Ethel Cain wuchs als Transfrau in einer Baptistengemeinde auf

Die Transfrau wuchs in einer ländlichen Baptistengemeinde in Florida auf, der Vater war Diakon, sie sang zusammen mit ihrer Mutter im Kirchenchor, und auch zu Hause war nur christliche Musik erlaubt. Cains Songs, selbst die wenigen, unverhohlen auf die Charts schielenden Nummern wie „American Teenager“ haben bis heute etwas Hymnisches, Hinaufstrebendes behalten.

„Ethel Cain“ ist freilich nur eine Rolle in dem Southern-Gothic-Drama, das die Singer-Songwriterin in ihren weit ausholenden Liederkollektionen entwirft, ihre beiden Studioalben haben jeweils Spielfilmlänge. Ihren bürgerlichen Namen gibt Cain dagegen als Hayden Silas Anhedönia an. Aber der Familienname mit dem Heavy-Metal-„ö“ ist nur eine weitere ihrer Erfindungen: Anhedonie bezeichnet die Unfähigkeit, Freude oder Lust zu empfinden.

Als sie ihrer Mutter im Alter von zwölf Jahren erzählte, dass sie auf Jungs steht, wurde sie zu einem Therapeuten geschickt. Der sich immerhin als der erste Mensch erwies, der sie nicht als Spross Satans behandelte, dem nach dem Tod die Hölle gewiss sei. Das prägt. Kein Wunder, dass ihr musikalisches Alter Ego das Kainsmal trägt, von Gott verlassen und beschützt zugleich. Geliebt, aber nicht gerettet.

Das Trauma, immerhin, funktioniert als Musenkuss bestens. Cain wird oft mit Lana Del Rey verglichen, zu ihrem Missvergnügen, die beiden Sängerinnen verbindet eine innige Feindschaft. In der älteren Single „Crush“ – in Köln die zweite Zugabe – kann man diesen Einfluss noch am deutlichsten hören. Tatsächlich sind die feinen Unterschiede aber viel bezeichnender: Während Del Rey an den dekadenten Glamour des alten Hollywood und mondäner Nachtclub-Chanteusen wie Julie London und Peggy Lee anknüpft, findet Cain ihre Inspiration eher im Glanz der Arbeiterklasse, in todessehnsüchtigen Countrysongs wie „Satan Is Real“ von den Louvin Brothers oder in Bobbie Gentrys sumpfig-süßer Selbstmord-Ballade „Ode to Billie Joe“. Und auch im nicht weniger lebensfeindlichen norwegischen Black Metal, der anhedonischsten Teufelsmusik überhaupt.

Und während Del Rey gar nicht so heimlich Hip-Hop liebt, neigt Cain dazu, ihre dunklen Geschichten mit den warmen Mainstream-Synthiepop-Melodien zu verzuckern, die ihr in der Kindheit verweigert worden waren. Die Stimme dazu hat sie, klar und kraftvoll, schmerzverzerrt klingt sie nur, wenn sie es will. Das Leben ist eine Horrorshow. Aber manchmal liegt die Betonung eben her auf „-show“.

Dementsprechend mäandert auch die Musik an diesem Abend zwischen abweisendem Krach und einnehmenden Americana-Gezupfe, wie in „Nettles“, der sehr schönen ersten Single ihres neuen Albums mit dem countryesken Titel „Willoughby Tucker, I'll Always Love You“ mit der sehr schönen Zeile „I've never seen brown eyes look so blue“. Zwischen vernebelter Kommunikationsverweigerung und gottesdienstartigen Mitsingpassagen, in denen die durchweg textsicheren Fans zusammen mit der Sängerin jenem Haus in Nebraska hinterhertrauern können, in dem Liebe für einen Moment möglich schien, „denn du warst der Einzige, dem ich ohne Angst sagen konnte, dass ich verletzt war“.

Wenn das noch Pop ist – und das vorwiegend junge und weibliche Publikum reagiert nicht anders auf Ethel Cain, als es auf Billie Eilish oder Dua Lipa reagieren würde –, so ist es doch der ungewöhnlichste Pop unserer Tage. Oder schlicht der angemessenste für ein Amerika, dass seinen einstigen Freunden und auch sich selbst unheimlich geworden ist.