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„Faust“ am Schauspiel KölnBevor die Tragödie ihren Lauf nimmt, wird das Publikum fotografiert

4 min
Lavinia Nowak steht auf einem Gabelstapler und betätigt einen Flammenwerfer, Frank Genser trägt große Engelsflügel und Cowboyhut

Lavinia Nowak als Mephistopheles und Frank Genser als Engel in Kay Voges' Kölner „Faust“-Inszenierung

Schauspiel-Intendant Kay Voges inszeniert Goethes „Faust“ mit Live-Fotografen auf der Bühne als Drama der Vergänglichkeit. Unsere Kritik.

Bevor er das Bühnengeschehen ablichtet, macht sich Marcel Urlaub im Depot 1 erstmal ein Bild vom Publikum, blitzt mit künstlich verstärktem Begleitgeräusch des Auslösers ins Parkett hinein. Ein Gruppenbild taucht beinahe sofort auf der großen Leinwand hinter Urlaub auf, dann geht der Theaterfotograf näher ran, knipst links wie rechts. Kichernd erkennen sich Zuschauende im vergrößerten Ausschnitt. Als wären sie die im „Faust“ beschworenen „schwankenden Gestalten, die früh sich einst dem trüben Blick gezeigt“ – und die der alternde Goethe hier, im zweiten Anlauf festzuhalten versucht.

Zwar wurde die erste Fotografie – Joseph Niépces „Blick aus dem Arbeitszimmer von Le Gras“ – noch sechs Jahre vor Goethes Tod mithilfe einer Camera obscura erstellt, aber rezipieren konnte der Weimarer die neue Kulturtechnik, den schönen Augenblick verweilen zu lassen, nicht mehr. Doch er und sein suchendes Alter Ego Faust, schreibt Matthias Seier im Programmheft, „wären vermutlich begeistert gewesen: Der Blitz einer Fotografie, der die umgebende Dunkelheit kurz erhellt und einzufangen versucht. Das plötzliche, gespensterhafte Aufsprießen der Farben auf dem Fotoabzug in der Dunkelkammer.“

Existiert die Welt nur als Nachbild auf der Netzhaut?

Oder, wie in Kay Voges' Inszenierung der Goethe-Tragödie, per WLAN auf der Leinwand, wo ein Fotoroman den Dramentext doppelt und gelegentlich konterkariert. Sein „Faust“ feierte vor drei Jahren Premiere am Wiener Volkstheater, nun hat er sie für seine Kölner Intendanz auf der extrabreiten Bühne im Carlswerk neu eingerichtet.

Das sieht dann zum Beispiel so aus: Am einen Ende der Bühne steht Andreas Beck als alter Universalgelehrter, am anderen Uwe Rohbeck keck gehörnt als sein teuflischer Versucher, sie deklamieren ohne große Gestik – aber äußerst gekonnt – in Mikrofone, es könnte auch eine Live-Aufführung im Radio sein. In der Mitte gewittert derweil Blitzlicht aus einem blickdichten, drehbaren Bungalow, wo der Fotograf mit wohlkomponierten Momentaufnahmen alternativer Fäuste – ein stummer Frank Genser und eine ganze Schar Andreas-Beck-Masken tragender Avatare – das Gehörte schalkhaft kommentiert: Faust als Farce. Sie toben durch ein abgeranztes Motelzimmer, komplett mit „Crazy Wall“, der Pinnwand eines sinnsuchenden Detektivs. Wollfäden stellen die abenteuerlichsten Verbindungen vom Himmel durch die Welt zur Hölle her, unterbrochen von Kopien des Ufo-Posters aus Fox Mulders Büro in „Akte X“: „I want to believe!“

Birgit Unterweger im Kölner „Faust“

Eine Fotografie verweilt zumeist, bis sie von der nächsten abgelöst wird, in der Walpurgisnacht etwa als stummes und statisches Sextape. Schon damit ist sie weniger flüchtig als das Theater und eben auch das Leben selbst. Aber ob auf diese Weise wirklich ein Mehrwert an Sinn bleibt? „Das ist die Zeit“, zitiert der Teufel später Laurie Anderson, „und das ist die Aufnahme der Zeit.“ Wo steckt der Sinn? Im Genuss des Augenblicks oder in der ihn festhaltenden Reflexion? Oder ist alles nur Reflexion, existiert die Welt nur als Nachbild auf der Netzhaut?

Über weite Strecken bringt diese fotografische Erkundung tatsächlich mehr Licht ins dunkle Dichtwerk. Etliches hat Kay Voges dafür gekürzt, von Auerbachs Keller über die Marthe Schwerdtlein bis zu den ersten vier Akten der Tragödie zweiter Teil. Aber die Zueignungen, Vorspiele und Himmelsprologe bleiben nahezu unversehrt, denn er will das Gemachte der Faust'schen Welterfahrung zeigen, Sinn als gemeinsames Konstrukt der Gewerke sozusagen. „Schonet Prospekte nicht und nicht Maschinen“, wie es im „Vorspiel auf dem Theater“ heißt.

Geopfert hat Voges auch die Tragödie selbst. Mitzuleiden gibt es an diesem Abend wenig, wenn der Talk-Talk-Song „Wealth“ vom Band erklingt und Mark Hollis wimmernd seine Freiheit der Liebe opfert, ist das noch der anrührendste Moment des Abends, zwischen den Spielenden und ihren Rollen aber hat sich das Konzept geschoben.

Paul Grill gibt den verjüngten Faust, Uwe Schmieder den erblindeten Greis, auch die Margarete vervielfacht sich, muss sich als „König in Thule“-Sängerin (Hasti Molavian) von einem selbstherrlichen Regisseur kujonieren lassen, freut sich als junge Naive über eine dicke Bling-Bling-Goldkette, die eine rote Teufelin herangeschafft hat – beide Rollen übernimmt Lavinia Nowak – oder bekommt von Birgit Unterweger und Anja Laïs ein gerüttelt Maß an Selbstbewusstsein geschenkt.

Schließlich umzingeln alle vier den werbenden Faust, stellen die Gretchen-Frage. Er will ja gerne glauben, „I want to believe“. Aber wie, wenn am Ende kein Eindruck bleibt, nur der Blick sich trübt? Der alte Faust verflucht das Hier und genießt doch den höchsten Augenblick. Es ist der Moment zwischen dem Öffnen und dem Schließen der Blende, es ist das Leben als bald verblichener Schnappschuss, ein kurzer Blitz im langen Dunkel.