Gürzenich-Konzert in KölnMit diesem Tempo wird Beethovens Vierte zur rauschhaften Groteske

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Michael Sanderling lehnt im Konzerhaus an einem Geländer.

Michael Sanderling dirigierte das Gürzenich Orchester in der Kölner Philharmonie

Unter Dirigent Michael Sanderling beglückte das Gürzenich Orchester in der Kölner Philharmonie mit Beethoven und Dvořák. Origineller war ein selten gespieltes Konzert für Cembalo. 

Bekannten Stücken des klassisch-romantischen Kernrepertoires bei Wiederaufführungen nochmals eine Kraft wie beim ersten Mal zu geben, ist weit schwerer, als mit unbekannten Werken Hellhörigkeit zu provozieren. Zu den populärsten Klassik-Hits gehören Antonín Dvořáks „Slawische Tänze“. Vor allem die „Furiante“ und „Polkas“ hat man viele dutzende Male gehört. Gleichwohl vermochte deren ebenso schwungvolle wie dynamisch und agogisch differenzierte Aufführung unter Leitung von Michael Sanderling am Sonntagvormittag die Lebensgeister anzustecken.

Die geweckte Aufmerksamkeit galt dann jedoch einem weithin unbekannten Werk des hierzulande selten gespielten Bohuslav Martinů. Der 1890 wie Dvořák in Böhmen geborene Komponist schrieb sein „Konzert für Cembalo und kleines Orchester“ 1935 im damals zeittypischen Neoklassizismus. Durch die Wahl des Soloinstruments wendete der tschechische Komponist den Stil freilich zum neobarocken Concerto grosso. Zu danken war dieser ungewöhnliche Programmpunkt dem gegenwärtigen Artist in Residence des Gürzenich Orchesters Mahan Esfahani. Der Cembalist wurde 1984 in Teheran geboren, wuchs in den USA auf und lernte beim Studium in Prag die Musik von Martinů kennen.

Mahan Esfahani ist der aktuelle Artist in Residence des Gürzenich

Melodik und Form des dreisätzigen Werks orientieren sich an Corelli, Vivaldi und Bach. Einem lebhaften Rondo mit teils bitonaler Harmonik folgt ein in langen Sequenzen schwelgendes Adagio über starr pochenden Bässen wie in Vivaldis „Winter“. Der dritte Satz ist ein keckes Allegretto im 6/8-Takt, das der Solist immer wieder im 2/4-Metrum mit toccata-artiger Virtuosität kontrastiert. Stellvertretend für die epochenübergreifende Verbindung von Barock und Moderne stehen konzertierende Dialoge zwischen Solocembalo und modernen Orchesterklavier, von Paulo Alvares sehr behutsam gespielt.

Die lediglich zwanzig Instrumente des Orchesters erwiesen sich dennoch als zu schwer gegenüber dem Cembalo, das einfach nicht für große Konzertsäle gebaut ist und durchaus beherzter hätte elektronisch verstärkt werden können. Voll zur Geltung kam das Instrument erst in Esfahanis Zugabe. Vermutlich anhand eines Stücks von Louis Couperin demonstrierte er eindrücklich die Differenzierungsmöglichkeiten des zwei Manuale umfassenden Instruments. Während über die eine Tastatur die Saiten wie üblich mit Federkielen angerissen werden, sodass der typisch sirrende Klang entsteht, wird die Mechanik des zweiten Manuals durch einen Lautenzug so versetzt, dass die Saiten mit kleinen Keilen bloß getupft werden, was eine gänzlich andere Klangfarbe erzeugt.

Den rauschenden Abschluss bildete Beethovens vierte Symphonie. Neben dessen berühmteren Symphonien 3 und 5 gilt diese als klassisch-mozartisches Zwischenwerk. Doch die Tempodramaturgie ist außergewöhnlich. Das Adagio ausgenommen werden alle Sätze ganztaktig artikuliert, was im 4/4-Kopfsatz „Allegro Vivace“ umgerechnet rasend schnelle Viertel = 320 ergibt. Die klassischen Themen und Satztechniken erfahren dadurch – zumal vom Gürzenich Orchester brillant gespielt – eine spekulative Übersteigerung. Die im Schlusssatz in den Violinen fast ununterbrochen durchlaufenden Sechzehntel-Ketten werden so plötzlich in Fagott und Kontrabässen zu etwas Groteskem. Bravi!

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