Ist der „Westen “schuld am Krieg?Historiker Gerd Koenen widerlegt Putin-Narrative in neuem Buch

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Wladimir Putin, Präsident von Russland, hält ein Fernglas in den Händen.

Historiker Gerd Koenen legt neues Buch über Russland vor.

Historiker und Publizist Gerd Koenen analysiert Putins Politik und widerlegt die These, der Westen sei schuld am Überfall auf die Ukraine.

Wurde da wirklich etwas verpasst, sündhaft versäumt? Auch in Deutschland ist das Narrativ immer noch verbreitet, dass der „Westen“ Putins ausgestreckte Hand, die in seiner Rede vor dem Bundestag am 25. September 2001 mit dem Angebot einer umfassenden Zusammenarbeit auf allen Ebenen zwischen Russland und Westeuropa verbunden gewesen sei, in der Folgezeit schnöde und beharrlich verschmäht habe. Bis ihm, Putin, auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2007 schließlich der Kragen geplatzt sei. Fazit: Es war der Westen selbst, der den Krieg des Kreml gegen die Ukraine provozierte.

Der russische Diktator selbst produziert diese Erzählung – und findet damit hierzulande Zustimmung selbst bei solchen, die es, oft zu Recht, empört zurückweisen, als dessen Fellow Travellers denunziert zu werden. Die Phalanx reicht von Gabriele Krone-Schmalz bis zum früheren Kohl-Berater Horst Teltschik.

Historiker und Publizist Gerd Koenen über die Natur des Putinismus

Der damalige Assistent des russischen Emigranten Lew Kopelew, der Historiker und Publizist Gerd Koenen, lehnt in seinem neuen Buch „Im Widerschein des Krieges. Nachdenken über Russland“ diese Geschichtsversion eines westlichen „Selber schuld“ ab: 2001, so seine Argumentation, war der „von Putin willentlich vom Zaun gebrochene“ zweite Tschetschenienkrieg bereits zwei Jahre alt – die russische Journalistin Anna Politkowskaja, die über dessen verbrecherischen Charakter berichtete, bezahlte diesen Mut mit ihrem Leben.

Tatsächlich mahnt die Parallelität der Ereignisse – besagter Tschetschenienkrieg fand übrigens in den westeuropäischen Hauptstädten ein beklagenswert dürftiges Echo –, zur Vorsicht gegenüber der Legende der „ausgestreckten Hand“. Wurde vielmehr der angeblich „böse“ Westen nicht bereits damals eingelullt, betrogen, getäuscht?

Gerd Koenen auf der Phil.Cologne 2022 mit einem Anstecker in den Farben der ukrainischen Flagge.

Gerd Koenen auf der Phil.Cologne 2022.

Diese Frage regt zu einer für viele wahrscheinlich unwillkommenen Spurensuche an: nach eigenen interessierten Irrtümern, Fehleinschätzungen, Selbsttäuschungen über die Natur des Putinismus und die Politik des von ihm in Geiselhaft genommenen Riesenreiches – und zwar quer durch die politischen Lager.

Das „andere“ Russland gibt es Koenen zufolge durchaus – es befindet sich im Exil oder sitzt in den Gefängnissen. Der Autor ist also beileibe kein habitueller Russland-Hasser und ein uninformierter schon gar nicht. Vielmehr ist er dem Land aus langer persönlicher Erfahrung und Kenntnis in schmerzhafter Liebe verbunden, weshalb er die Entwicklungen dieser Jahre mit Grausen verfolgt.

Wladimir Putins russisch dominierter Herrschaftstraum

Und mit Ratlosigkeit: Wie etwa verträgt sich Putins „medial vermitteltes Selbstbild als eines kühl kalkulierenden Globalstrategen“ mit der offensichtlich wahnhaften Idee, der „kollektive Westen“ wolle Russland zerstören? Koenen rekonstruiert auch die ideologischen Grundlagen des Putin-Regimes, zumal die durch Geschichtsmythen unterfütterte „großeurasische“ Fantasie eines russisch dominierten Herrschaftsraumes vom Pazifik bis zum Atlantik.

In ihr werden kommunistische und „faschistische“ Ideologeme krude verrührt, auf jeden Fall aber geht sie einher mit einer offensiven Rehabilitierung von Stalins Herrschaft. In deren Zeichen wurde auch die in der Gorbatschow-Ära rudimentär entwickelte demokratische Zivilgesellschaft in den Putin-Jahren sukzessiv und planvoll zerstört.

Koenens bedrückende Perspektive: Putin wird mit seinem von fundamentalen eigenen Irrtümern begleiteten Krieg nicht aufhören können – weil er sich selbst den möglichen Rückzug versperrt hat: „Er muss weitermachen – mit der einzigen Hoffnung, dass die Verwüstungen auf Seiten des Gegners und seiner westlichen Unterstützer noch katastrophischer sein werden als die, die dieser Krieg und der Abbruch vieler internationaler Austauschbeziehungen für Russland selbst bedeuten werden.“

Letztlich bleibt da nur die vage Hoffnung, dass die leidensfähige russische Bevölkerung all diese Entbehrungen und den Schmerz über den Tod der eigenen Söhne in der Ukraine irgendwann nicht mehr hinnimmt.

Historiker und Publizist Gerd Koenen stellt mutmaßliche Ursachen des Krieges dezentriert da

Überhaupt ist, gibt Koenen zu bedenken, die Stabilität von Diktaturen oft geringer, als es auf Anhieb scheint, weil sie keine Möglichkeit zu einer systemerhaltenden Selbstkorrektur haben. In dieses neue Buch sind viele Veröffentlichungen des Autors aus den vergangenen Jahren eingegangen – Reportagen, Buchrezensionen, Essays.

Der Eindruck eines kaleidoskopischen „Stückwerks“ konnte dabei nicht durchweg vermieden werden. Das ist nicht weiter zu beklagen – eine dezentrierte Darstellung wird dem verwirrenden Gegenstand, also den mutmaßlichen Ursachen eines Krieges, den wir nicht mehr für möglich gehalten haben, vielleicht besser gerecht als eine streng organisierte Abhandlung, in der eins aus dem anderen hervorgeht.

Koenens Stil ist beneidenswert in seiner polemischen Eloquenz und Verve. Leider spürt man dabei immer wieder auch den Furor einer Teufelsaustreibung, die der ehemalige Maoist ins Werk setzen zu müssen glaubt. Die Maxime des verstorbenen Historikerpapstes Thomas Nipperdey, dass die Grundfarbe aller Geschichte nicht schwarz und nicht weiß, sondern grau sei, geht darüber verloren. Eine ganz andere Frage ist die einer praktischen Nutzanwendung aus Koenens Erkenntnissen. Seine Konstruktion der ideologischen und mentalen Verfasstheit des Diktators lässt eigentlich nur einen pessimistischen Schluss zu: Zu verhandeln mit ihm gibt es nichts. Aber kann es gestaltende Politik dabei belassen?

Gerd Koenen: „Im Widerschein des Krieges. Nachdenken über Russland“, C.H. Beck, 317 Seiten, 20 Euro.

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