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Interview

Musik gegen den Schmerz
Anna Lucia Richter singt in Köln bei Benefizkonzert

7 min
Eine Frau lächelt in die Kamera.

Anna Lucia Richter, Mezzosopranistin aus Köln, ist Kulturbotschafterin bei Casa Hogar Deutschland e.V.

Die Sängerin engagiert sich für Casa Hogar, einer Hilfsorganisation in Kolumbien. Im Interview spricht sie über das Projekt und die Stärke klassicher Musik.

Frau Richter, Sie sind Kölnerin und haben lange Zeit im Mädchenchor am Dom gesungen. Was löst dieser Ort in Ihnen aus?

Der Dom ist für mich wie ein zweites Zuhause. Von meinem 9. bis zu meinem 15. Lebensjahr war ich dort fast jede Woche. Sobald ich reinkomme, sorgt dieser Geruch, diese Mischung aus Weihrauch und Luftfeuchtigkeit für ein vertrautes Gefühl. In der Weihnachtszeit hat unsere Familie gefühlt am Dom kampiert. Mein Bruder hat im Domchor gesungen, ich im Mädchenchor. Heiligabend war immer eng getaktet: Nachmittags „Wir warten aufs Christkind“ in der Philharmonie, dann gab es Bescherung und Abendessen, dann ging es nachts wieder zurück in den Dom und wir haben bei der Christmette gesungen. Am ersten und zweiten Weihnachtstag haben sich Chöre bei den Pontifikalämtern abgewechselt. Dementsprechend ist der Dom für mein Weihnachtsgefühl ganz, ganz wichtig.

Dieses Jahr werden Sie zwar nicht in der Christmette singen, dafür aber kurz zuvor, am 21. Dezember, mit dem Gürzenich-Orchester zwei Benefizkonzerte mit Bachs Weihnachtsoratorium geben. Welches Projekt soll damit unterstützt werden?

Unsere Spenden gehen an Casa Hogar Deutschland e.V. – eine Organisation, die sich seit zehn Jahren im Chocó, einer Regenwaldregion an der Pazifikküste Kolumbiens, engagiert und deren Kulturbotschafterin ich bin. Der Chocó gehört zu den ärmsten Regionen des Landes. Nahezu 70 Prozent der Bevölkerung leben unter der Armutsgrenze. Dort herrscht eine furchtbare Hoffnungslosigkeit, obwohl die Region paradoxerweise ein wahnsinnig großes Goldvorkommen hat. Aber das wird größtenteils illegal mit furchtbaren Methoden abgebaut, weshalb ein Großteil des Trinkwassers mit Quecksilber vergiftet und nicht mehr trinkbar ist. Außerdem gibt es schreckliche Drogenkriege, die dafür sorgen, dass weite Teile der Region nicht sicher sind. Dazu kommen immer wieder Verschleppungen, auch von jungen Mädchen, die man zur Prostitution zwingt. Häufig bekommen die Mädchen dort mit ungefähr 13 Jahren ihr erstes Kind. Trotzdem stehen die allermeisten Familien ohne Väter da, weil alle in diesen Bandenkriegen verschluckt werden. Casa Hogar hat sich zur Aufgabe gemacht, dort die Mädchen und Frauen zu unterstützen. Wenn die unterstützt werden, wird dieser gesamte soziale Komplex sozusagen unterstützt.

Unterstützung für Mädchen und junge Frauen im Chocó

Wie sieht diese Unterstützung konkret aus?

Wir haben drei Kernprojekte. Eine Schule mit Wohnheim für Schülerinnen, ein Schutzhaus für von Gewalt bedrohten Frauen und ein Studentinnenwohnheim. Denn es gab in diesen zehn Jahren tatsächlich schon einige Mädchen, die es dank Casa Hogar geschafft haben, einen Bildungsabschluss zu machen und die ersten in der Familie zu sein, die nicht nur lesen können, sondern sogar studieren. Das ist schon ein wahnsinniger Schritt. Dazu gibt es diverse Kleinprojekte: Zum Beispiel eine mobile Schule im Bus, weil Schulwege oft nicht sicher sind. Es gibt auch sehr viele traumatisierte Mädchen, die in ihren Schulklassen erlebt haben, wie ihre Schulfreundinnen von Milizen verschleppt wurden. Außerdem gibt es ein großes Problem mit Erdrutschen, die Straßen verschütten. Momentan liegt der Fokus aber auf dem Schülerinnenwohnheim, wo aktuell auch am meisten unserer Benefizerlöse hinfließen. Dort wird eine Begegnungsstätte angebaut und der Schlaftrakt erweitert, sodass es auch für die Familien Bildungsteilhabe in Form von Gesundheits-, Säuglings-, Erziehungskursen oder eine Küche gibt, wo Essen zubereitet werden kann.

Wenn ich an den Vorstandssitzungen von Casa Hogar teilnehme und Videos mit den Menschen dort vor Ort sehe: Das ist teilweise so erschütternd, dass es diese Musik braucht.
Anna Lucia Richter, Mezzosopranistin aus Köln

Sie haben mit ihrem Vater, der Geiger im Gürzenich-Orchester ist, und anderen Kollegen schon vor zwei Jahren ein Benefiz-Weihnachtsoratorium in zwei Kölner Kirchen organisiert.

Ich bin dem Gürzenich-Orchester unglaublich dankbar, dass sie durch diese Sonderkonzerte mit anpacken und ich hätte nie gedacht, dass die Begeisterung und Bereitschaft dafür so groß wird, dass wir jetzt mit dem ganzen Orchester musizieren und die Philharmonie füllen werden. Ich bin wirklich gerührt, wie viele Leute auf mich zugekommen sind und gefragt haben: Kann ich mitsingen oder mitspielen? Wo kann ich spenden?

Sie haben kürzlich mit dem Gürzenich-Orchester eine CD, unter anderem mit den Kindertotenliedern Mahlers, herausgebracht. Sie haben außerdem mal gesagt: „Wenn wir singen, erzählen wir Geschichten.“ Erzählen Sie auch von den Schicksalen dieser jungen Frauen, wenn Sie das singen?

Absolut. Ich denke, dass es für alles, was man im Alltag erlebt, ein Pendant in der Musik gibt, dass das besser darstellen kann. Besser als mit jedem Wort, das man dazu sagen könnte. Wenn ich an den Vorstandssitzungen von Casa Hogar teilnehme und Videos mit den Menschen dort vor Ort sehe: Das ist teilweise so erschütternd, dass es diese Musik braucht.

Die große Chance der klassischen Musik

Ist es da vielleicht auch wirklich das Lied, das einen solchen Schmerz besonders gut ausdrücken kann?

Ja, Lied ist natürlich meine Herzensmusik. Ich könnte ohne Lied nicht Sängerin sein. Vor Kurzem habe ich die Winterreise in Amsterdam im Concertgebouw gesungen. Diese Erinnerung ist noch ganz frisch. Ich werde diesen Moment nie vergessen: Nach dem letzten Ton des „Leiermann“ hatten wir gefühlt eine ewige Stille. Und dann rief jemand flüsternd in diese Stille hinein: „Bravo!“ Und jemand anderes: „Himmlisch!“ Und dann sind alle wie auf Kommando aufgestanden und haben geklatscht. Das ist natürlich sehr schmeichelnd. Aber ich denke, das gebührt eben auch dieser Musik, diesem Zyklus, der einfach so unglaublich intensiv ist, sich immer weiter zuspitzt, intensiver und intensiver wird. Das passt eigentlich gar nicht so richtig in unsere Zeit.

Wie meinen Sie das?

Fast niemand hält es mehr aus, eine Stunde lang nur zu sitzen und nur zuzuhören, gerade bei der Winterreise, ohne Pause. Ich glaube, es ist tatsächlich eine Form von Training, die unserer Gesellschaft immer mehr abhandenkommt, eben diese Intensität zuzulassen. Wir haben zunehmend diese Feelgood-Geschichten und auf Social Media muss alles immer superschön sein. Es wird zwar propagiert, dass man die Seele öffnen und sich verletzlich machen soll, aber das ist eigentlich meistens Show. Dieses sich nicht in den Mittelpunkt stellen, sondern einfach nur zulassen und beobachten, das gibt es schon immer seltener. Aber ich glaube, dass das wahnsinnig wichtig für uns ist, weil wir dadurch empathischer werden und liebevoller, reflektierter miteinander umgehen. Das ist vielleicht eine große Chance unserer klassischen Musikwelt, da einen Beitrag zu leisten.

Ich nehme in meinem Umfeld durchaus eine Sehnsucht nach Vertiefung wahr. Sehen Sie die Klassik dazu in der Lage, ein jüngeres Publikum anzuziehen, das heutzutage mit sehr viel Weltschmerz aufwächst?

Ich habe das Gefühl, vielen jungen Leuten geht es gar nicht so gut. Es geht allgemein vielen Leuten nicht gut, weil man sehr pessimistisch in die Zukunft blickt. Die junge Generation hat einfach unglaublich viele, sehr schwierige Themen, bei denen sie in einigen Jahren in der Verantwortung stehen wird, aber jetzt ohnmächtig ist, weil die Älteren nichts tun: Klimawandel, die Wehrpflicht, die jetzt kommen wird, die zu wenigen Studienplätze, Personalmangel in der Schulbildung. Ich glaube schon, dass die Klassik da eine Form von Anker sein kann. Allerdings glaube ich auch, dass es in der jungen Generation – nicht nur, aber schon auch – ein Missverständnis gibt, das sie davon abhält, diesen emotionalen Anker wirklich zu ergreifen.

Tipps für Klassik-Einsteiger

Worin besteht das aus Ihrer Sicht?

Klassikhören ist in erster Linie nicht Konsum. Es ist keine Dienstleistung, die wir erbringen und dafür sorgen, dass man sich emotional sofort abgeholt fühlt. Es ist mit Arbeit verbunden, und zwar in dem Sinne, dass man sich bewusst öffnen und etwas zulassen muss. Am Anfang ist es auch wirklich schwierig, über diese Frustrationstoleranz hinwegzugehen und nach einem Klassikkonzert noch nicht aufzugeben, weil man es vielleicht langweilig fand. Es ist ein bisschen so, wie wenn man als Kind neue Lebensmittel kennenlernt. Man sagt mittlerweile, dass Kinder ein Essen mindestens zehn Mal probieren müssen, bis sich die Geschmacksknospen so weit entwickelt haben, dass sie überhaupt die verschiedenen Bestandteile schmecken können. Und ich glaube, so ist es auch in der Klassik. Es ist erst mal Arbeit. Man muss Sachen vielleicht zehn Mal hören, bis man diese Tiefe und dadurch eine Form von Genuss erreicht, der nicht oberflächlich ist.

Ich finde, das ist ein großer Fehler, den Kulturpass abzuschaffen.
Anna Lucia Richter, Mezzosopranistin aus Köln

Die Klassik muss aber auch zugänglich gemacht werden. Nicht jeder hat so ein Glück wie Sie, in einer Musikerfamilie groß zu werden. Wie bewerten Sie das Aus für den Kulturpass?

Ich finde, das ist ein großer Fehler, den Kulturpass abzuschaffen. Trotzdem mangelt es auch häufig an Informationen darüber, dass der Eintritt gar nicht teuer sein muss. Hier in der Kölner Philharmonie gibt es Karten für 10 bis 14 Euro, auch in der Oper für 10 Euro oder 8 Euro und das ist in fast jeder Großstadt so. Zugänglichmachung, beispielsweise mit Education-Projekten, ist wahnsinnig wichtig, aber das Problem ist, dass diese Ebene ganz oft etwas Anbiederndes hat. Nach dem Motto: Wir müssen mit der Klassik näher an die Popbranche rücken, damit wir spannend sind, anstatt auf Authentizität zu vertrauen und zu sagen, wir vermitteln diese Tiefe als etwas Positives und nicht, wir nehmen die Tiefe weg, damit es den Menschen leichter gefällt. Das ist genau falsch und eigentlich sehr arrogant, wenn man so denkt.

Welche Stücke würden Sie Klassik-Einsteigern empfehlen?

Ich glaube, man sollte sich nicht direkt an etwas mit drei Stunden Länge heranwagen, sondern einzelne, kürzere Sachen hören: Den Eingangschor der ersten Kantate des Weihnachtsoratoriums mit der Pauke zum Beispiel, aber auch so Sachen, wo vielleicht jetzt der eine oder andere Connaisseur lachen würde: Vivaldi, Vier Jahreszeiten, Winter. Damit können die meisten direkt etwas mit verbinden. Im Opernbereich ist Puccini ein guter Einstieg: La Bohème, „Che gelida manina“. Und dann Pavarotti mit Kaufmann vergleichen. Da gibt es schon nach zwei Minuten Gänsehaut-Momente.


Am Sonntag, 21. Dezember, führt das Gürzenich-Orchester in der Kölner Philharmonie Bachs Weihnachtsoratorium zugunsten von Casa Hogar Deutschland e.V. mit verschiedenen Solisten, wie der Mezzosopranistin Anna Lucia Richter, auf. Das erste Konzert mit den ersten drei Kantaten beginnt um 11 Uhr, das Zweite mit den Kantaten vier bis sechs um 15 Uhr. Weitere Informationen und Karten für „Jauchzet, frohlocket!“ gibt es hier.