Kölner Bach-FestivalBach einmal ganz unhistorisch

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Das Neue Orchester unter der Leitung von Andrea Keller spielt Bach

Das Neue Orchester unter der Leitung von Andrea Keller spielt Bach

Im Kölner Bach-Festival gab es an Allerheiligen allerlei tolle Konzerte zu hören. 

Dafür, dass Allerheiligen ein Feiertag ist, gab es diesmal Arbeit satt – für die Musiker wie für ihr Publikum: Die dritte Ausgabe von Christoph Sperings Kölner Bach-Fest endete mit einem ganztägigen Konzertreigen in den Räumen des Gürzenich: Im großen Saal, im Isabellensaal und im Parterre folgten die Auftritte zwischen 11 und 17 Uhr in einer Dichte (teilweise überschnitten sie sich auch), die den zahlreichen Besuchern kaum Zeit ließ, zwischendurch mal das stille Örtchen aufzusuchen. Aber die Anstrengung lohnte sich: Die enge Beziehung zwischen Bach und Max Reger in den unterschiedlichen Genres und Besetzungen auszuleuchten, war der programmatische Anspruch der Festivalwoche gewesen – zum Schluss wurde er noch einmal eindrucksvoll eingelöst.

Zweifellos ist der deutsche Spätromantiker in Klanglichkeit und Harmonik auch der Erbe von Wagner und Brahms, aber Bach bringt sich als Vorbild eben doch immer wieder zur Geltung. Zumal Reger teilweise die direkte Konfrontation sucht: etwa in seinen (jetzt von Emilio Percan bzw. Christian Euler gespielten) Solowerken für Violine und Bratsche, wo in Figuration und Sequenztechnik das Modell der einschlägigen Bach-Kompositionen unüberhörbar ist. Und selbstredend ist der Thomaskantor in den gigantischen Fugen präsent, mit denen Reger notorisch seine Variationenwerke beschließt (sie kamen während des Festivals komplett zur Aufführung). Freilich sind die exzessiv-monumentalistischen Aufgipfelungen, die etwa die Pianisten Markus Becker und Hinrich Alpers den Reger’schen Beethoven-Variationen für zwei Klaviere mit großem Aplomb angedeihen ließen, Bach dann auch wieder einigermaßen fremd.

Kölner Bach-Festival von Spering

Das gilt auch für die Orchestervariationen über das harmlose Singspielthema von Johann Adam Hiller, mit denen das Neue Orchester, dirigiert von Spering himself, den Konzertreigen beschloss (sie waren übrigens 1907 im Gürzenich uraufgeführt worden). Da gab es ein paar Mängel im Detail (etwa in den Streichern anlässlich der ersten Themenexposition in der Fuge), aber wie Spering den schwellenden und strömenden Sound der Spätromantik hinbekommt, das ist schon bemerkenswert, zumal vor dem Hintergrund der ganz anders gearteten Tradition seines Orchesters.

Nicht immer freilich ist Regers Bach-Adaption ein Mehr, manchmal geht sie auch mit Verlusten einher. In seiner Bearbeitung des fünften Brandenburgischen Konzerts für Klavier vierhändig etwa geht naheliegend die instrumentalspezifische Klanglichkeit verloren, die das Konzertieren von Flöte, Violine und Cembalo erzeugt. Am Spiel des Pianisten-Ehepaares Herbert Schuch/Gülru Ensari lag das nicht, sie kämpften mit Motivprägnanz und differenziert eingesetzter Schwelldynamik erfolgreich gegen die partiturbedingten Defizite an. Und Bachs schöne Bassfiguration war in der Bearbeitung womöglich noch besser zu hören als im Original. So oder so war es eine interessante Begegnung: Bach einmal ganz unhistorisch, nämlich aus dem Geist der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert – da macht die Epochendifferenz die Musik in ihrer Substanz zu einer „anderen“.

In fast allen Konzerten war der Eintritt frei

Wenn man als Besucher bei immerhin bis auf eine Ausnahme durchweg freiem Eintritt bis zum Ende ausharren konnte, dann war dafür auch die meistenteils hohe und in diesem Sinn von Auftritt zu Auftritt erneuerte Qualität der Darbietungen verantwortlich. Der Bonner Kammerchor unter Georg Hage zum Beispiel mit Reger’schen A-Cappella-Chören (im Wechsel mit von Markus Schäfer und Ernst Breidenbach hochdifferenziert gestalteten Klavierliedern) – eine Wucht an satter, weicher Klangfülle, sonorem Piano, ohne Substanzverlust durchgehaltenen Phrasen und wunderbar ausmusizierten Satzschlüssen. Zu schmunzelnder Befremdung gab freilich auch hier die Art und Weise Anlass, wie der Komponist einfachste Melodien mit harmonischen Ausweichungen überlädt.

Sehr ansprechend auch die Interpretation von Regers formal interessantem Streichsextett durch die gut aufeinander hörenden und abgestimmten Solisten des Neuen Rheinischen Kammerorchesters und die (bereits erwähnten) Solodarbietungen, aus denen neben Christian Euler (mit Regers e-Moll-Bratschensuite) die Kölner Geigerin Ariadne Daskalakis mit einer so intensiven wie anrührenden Darbietung der legendären Chaconne aus Bachs d-Moll-Partita herausragte. Zum humoristischen Glanzlicht bei Kaffee und Kuchen geriet schließlich im Erdgeschoss die Aufführung von Bachs Kaffeekantate mit den Solisten Anna Herbst und Raimund Nolte sowie dem Neuen Orchester unter Andrea Keller. Der Vater, der seiner Tochter das Kaffeetrinken verbieten will, aber hier selbst frohgemut zur Weinflasche greift – das darf ein origineller ideologiekritischer Beitrag zur nach wie vor aktuellen Suchtproblematik genannt werden.

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