Kölner Balletchefs im Interview„Eine emotionale Achterbahnfahrt“

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Tanzen mit größerem Abstand: Szene aus Richard Siegals Ballettabend: „On Body: BoD/ Made for Walking/ UNITXT“

Tanzen mit größerem Abstand: Szene aus Richard Siegals Ballettabend: „On Body: BoD/ Made for Walking/ UNITXT“

  • Hanna Koller kuratiert die Tanzgastspiele in Köln, Richard Siegal leitet die Compagnie Ballet of Difference am Kölner Schauspiel.
  • Im Gespräch berichten sie über den Schock der Corona-Pandemie und über Strategien, den Tanz in Köln lebendig zu halten.
  • Eine Choregrafie von Siegal scheint wie maßgeschneidert für die Coronazeit.

Richard Siegal, Sie hätten mit Ihrem Ballet of Difference noch zwei Premieren in dieser Spielzeit gehabt, dann kam Corona dazwischen.

Siegal: Die erste wäre eine Weltpremiere gewesen, „One for the Money“, die zweite, „Triple“, ein Abend mit drei älteren Arbeiten, von denen wir bereits zwei neu einstudiert hatten. Wir waren gerade dabei, mit der dritten Choreographie anzufangen, als das Unerwartete passierte.

Sie mussten von einem auf den anderen Tag mit den Proben aufhören?

Siegal: Ja, genau so war es. Das war Freitag, der 13. übrigens. Und genau wie der Rest der Welt brauchten wir eine Zeit, um uns wieder zurechtzufinden. Ein Prozess, den wir wahrscheinlich noch nicht abgeschlossen haben. Die interessante Frage, die sich jetzt stellt ist: Welche Relevanz hat das Live-Theater? Auf welche Weise können wir unsere Arbeit und unsere Kunst fortsetzen und dabei eine sinnvolle Beziehung mit dem Publikum aufrechterhalten? Das ist nicht unmöglich. Aber wir mussten uns erst einmal an den Gedanken gewöhnen, dass wir auch in der näheren Zukunft nicht unter normalen Bedingungen arbeiten werden.

Zur Person

Hanna Koller kuratiert seit 2009 die Tanzgastspiele an den Bühnen Köln.

Richard Siegal kooperiert seit 2017 mit dem Schauspiel Köln, seit dieser Spielzeit ist es die neue Heimat seines Ballet of Difference.

Die Interviewreihe 12x12 veröffentlicht jeden Samstag und Mittwoch ein neues Video auf www.schauspielkoeln.de

Hanna Koller, was bedeuten der Shutdown und die geschlossenen Grenzen für die Tanzgastspiele?

Koller: Für diese Spielzeit musste ich drei Gastspiele absagen. Als wir im März Wim Vandekeybus abgesagt haben, hatte Stefan Bachmann noch vorgeschlagen, das Gastspiel auf das Ende der Spielzeit zu verlegen. Das kommt einem jetzt so verrückt vor. Mich belastet sehr, dass das fast alles Compagnien sind, die ihre Tänzer und Tänzerinnen nicht bezahlen können, wenn sie keine Vorstellungen haben. Wir versuchen natürlich, diese Gastspiele zu verlegen. Aber wir können noch gar keine festen Termine machen. Ich gehe davon aus, dass es bis zum Ende des Jahres schwierig wird. Solange es keinen Impfstoff gibt, bleibt das Risiko. Ich bin der Meinung, dass man damit auch zu leben lernen muss.

Hanna Koller

Hanna Koller

Was bedeutet das für die einzelnen Compagnien?

Koller: Viele dieser tollen, zeitgenössischen Compagnien in Europa wird es nach Corona nicht mehr geben. Das Ballet of Difference und auch jede andere Compagnie in den Stadttheatern ist in einer geschützteren Situation. Aber diese ganzen großartigen belgischen, französischen, englischen Compagnien, die nicht an einem Theater unter Vertrag sind, wie sollen die in dieser Situation überleben?

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Gibt es nicht die Chance, dass sich diese Gruppen wieder zusammenraufen können?

Koller: Die größeren Compagnien werden das hoffentlich auch schaffen. Das ist so, wie bei den großen Multiplexen und den kleinen Programmkinos. Wenn bei den kleinen Programmkinos nicht etwas passiert, werden die nicht überleben. Im Moment scheinen andere Wirtschaftszweige einfach wichtiger zu sein und die Kultur ist nicht relevant als Wirtschaftsfaktor. Deswegen finde ich es so wichtig, dass wir bald wieder sichtbar werden. Und wenn wir nur im Depot vor 100 Zuschauern tanzen.

Siegal: Die gesamte Kulturindustrie ist bedroht. Darüber redet im Moment niemand. Wir sind so verzweigt, dass wir nicht mit einer einzigen Stimme sprechen können, wie zum Beispiel die Autoindustrie. Zum Theater gehören ja nicht nur die Künstler, sondern etwa auch die Technik, Verwaltung und die wirtschaftliche Belebung, die weit in die Gesellschaft hinein reicht. Das ist eine ausufernde, eng miteinander verzahnte Industrie. Wenn das Publikum zurückkommen kann, wird es zurückkommen. Wenn die Künstler wieder produzieren können, werden sie produzieren. Es ist alles intakt, es muss nur unterstützt werden. Das geht direkt ins Herz, wenn beschlossen wird, dass du nicht systemrelevant bist.

Koller: Ich denke, wir sind systemrelevant, denn dass wir keinen Tanz, kein Schauspiel, kein Konzert besuchen können ist etwas, was den Menschen fehlt. Gerade in der Krise. Das ist eine andere Form von Nahrung. Die städtischen Theater haben jetzt den Auftrag, herauszufinden, was man machen kann? Vielleicht müsste man damit anfangen, auch freien Choreografen ein Recherchebudget dafür zur Verfügung zu stellen.

Gab es Momente echter Verzweiflung?

Siegal: Es ist eine emotionale Achterbahnfahrt. Interessant finde ich, dass fast alle Leute, die diese Zeit miterleben, zur gleichen Zeit dieselben Höhen und Tiefen durchmachen. Das stelle ich jedenfalls fest, wenn ich mit Freunden oder Kollegen spreche. Ich würde auch gar nicht so sehr von Depression sprechen, bei vielen Leuten habe ich sogar eine Art von Hochstimmung erlebt. Der Schock, die Desorientierung, die Langeweile, das alles kann auch sehr stimulierend wirken.

Der Schock kann auch stimulieren

Mich erinnert das an die Langeweile, die man als Kind empfunden hat. Die führte oft zu kreativen Ergebnissen.

Siegal: Das stimmt. Das ist auch eine Art Geschenk. Ich habe in letzter Zeit viel Camus gelesen, der spricht an einer Stelle von typisch bürgerlichen Ferien. Er nennt sie die Langeweile-Kur. So funktioniert der Kapitalismus: Man arbeitet, arbeitet und arbeitet. Dann nimmt sich jeder eine kleine Auszeit, um wieder mit der Langeweile in Berührung zu kommen. Denn Arbeit macht uns nach Camus krank und die Langeweile kann uns heilen.

Richard Siegal

Richard Siegal

Was haben Sie und Ihre Tänzer in den vorstellungslosen Wochen gemacht?

Siegal: Wir haben eine Serie von Interviews produziert, 12x12 genannt, bei der ein Schauspieler aus dem Ensemble jeweils einen Tänzer interviewt. Wir haben sechs neue Tänzer im Ensemble. Die haben gerade erst im Januar angefangen.

Sie waren also noch in der Kennenlernphase?

Siegal: Genau, und durch diese Interviews habe ich die neuen Tänzer ein wenig kennengelernt und auch andere Seiten an denjenigen entdeckt, die bereits in der Compagnie sind. Die Krise hat unserem Gruppengefühl naturgemäß geschadet, eine Compagnie definiert sich nun mal durch das gemeinsame Tanzen. Nun diskutieren wir gerade, wie wir wieder mit der Zusammenarbeit beginnen können.

Aufführungen wohl vor deutlich weniger Publikum

Kann man denn Tanzen und gleichzeitig Abstand halten?

Siegal: Die Berührung ist keine Voraussetzung für den Tanz. Seltsamerweise hatten wir bei unserer letzten Premiere in Köln, „New Ocean“, die Grundregel, dass sich die Tänzer nicht berühren durften, tatsächlich sollten sie noch nicht einmal Blickkontakt aufnehmen. Das könnte also eine Arbeit sein, die man auch unter den gegebenen Umständen zeigen kann. Wie diese Regeln für Zuschauer und für die Technik aussehen, daran wird gerade gearbeitet.

Koller: Wir werden wahrscheinlich vor sehr viel weniger Publikum spielen. Aber vielleicht kann das auch zu einer ganz besonderen Erfahrung für die Zuschauer werden.

Siegal: Vor Ballet of Difference hatte ich eine andere Compagnie gegründet, The Bakery. Mit der hatten wir viel im Hinblick auf die neuen Medien und Virtualität gearbeitet. Eine der ersten Sachen, die wir 2005 unternommen haben, war eine interaktive Webseite einzurichten, um eine internationale Gemeinschaft aus Choreografen und Tänzern aufzubauen, die dann kollektiv ein Tanzstück erarbeiten können. Jetzt bekommt diese Arbeit aus den ersten zehn Jahren meiner Karriere eine neue Relevanz. Wir wollen natürlich nicht den realen Raum aufgeben — aber das sollte uns nicht davon abhalten, gleichzeitig auch für den virtuellen Raum zu produzieren. Unser politischer, wirtschaftlicher und sozialer Diskurs hat sich ja auch in Rekordgeschwindigkeit in den Cyberspace verlagert. Das wäre letztlich sowieso passiert, das Theater hat in den vergangenen hundert Jahren kontinuierlich Publikum verloren, angefangen mit dem Siegeszug des Kinos. Ich finde die jetzige Explosion der Kreativität online sehr inspirierend. Da liegt viel Potenzial drin. Wir mögen alle von der Bühne kommen, aber wir müssen zusätzlich auch dahin gehen, wo die Öffentlichkeit ist.

Koller: Ich habe glücklicherweise bereits vor zwei Jahren angefangen, mit Anne Teresa De Keersmaeker ein Projekt für das Museum Kolumba zu planen. Wir werden die kommende Tanz-Spielzeit also in Kolumba eröffnen. Stefan Kraus, der Museumsdirektor, ist davon begeistert, das Kolumba für den Tanz zu öffnen, und wir hoffen, dass er dort mit ganz unterschiedlichen Formaten in den verschiedenen Räumen ein Jahr lang sichtbar sein wird. Ich hatte auch mit Richard darüber gesprochen, mit BOD etwas für das Kolumba zu erarbeiten. Diese Kooperation ist für mich ein großer Hoffnungsschimmer. Man kann auch jenseits des Cyberspace neue Räume für den Tanz eröffnen.

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