Kölner Corona-PremiereWenn selbst die Tänzer Masken tragen

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Szene aus "New Ocean"

  • Vor einem Jahr feierten Richard Siegal und sein Ballet of Difference mit „New Ocean“ Premiere in Köln. Dann kam Corona.
  • Jetzt hat der Choreograf das Tanzstück in eine begehbare, sechsstündige Performance verwandelt.
  • Die Zuschauer können bleiben, so lange sie wollen. Was sie erleben, lesen sie hier.

Köln – Tröpfchenweise verteilen sich die Zuschauer im Depot 1 des Schauspiel Köln. Im gebotenen Abstand, zueinander und zur großen, schwarzen, leicht erhobenen Bühnenfläche, in deren Mitte eine kleine Manege weiß ausgeleuchtet ist.

Als jeder seinen Platz gefunden hat, stehend, sitzend oder auch weiterhin die Bühne umrundend, hebt die raue Stimme des Bluessängers Taj Mahal an: „Du vermisst dein Wasser erst, wenn dein Brunnen ausgetrocknet ist.“ Dann wieder Stille. Die Tänzer von Richard Siegals Ballet of Difference betreten von links und rechts die Bühnenfläche, sie tragen weit über die Hüfte gezogene schwarze Strumpfhosen und schmale Bustiers.

Manche von ihnen bleiben in der Nähe der Manege stehen, strecken sich oder verharren in Positionen, in denen Normalsterbliche nicht lange verharren könnten: ein Skulpturenpark disziplinierter Körper. Im Übrigen beachten sie während ihrer Auf- und Abgänge ebenso wie die Zuschauer die Maskenpflicht, das erscheint schon gar nicht mehr wie ein inszenatorischer Einfall, es ist schlicht geteilte Realität.

In der Petrischale

Ein, zwei oder drei Tänzer treten dann abwechselnd ins hell erleuchtete Rund, führen strenge Bewegungschiffren aus, die sehr schön anzusehen, aber unmöglich zu entziffern sind. Sie könnten Mikroorganismen in einer Petrischale sein, Fische im Wasser oder die im erwärmten Polarmeer driftenden Eissplitter, welche die Rezensentin der Uraufführung von Richard Siegals Tanzstück „New Ocean“ gesehen hat.

Das war vor einem Jahr, in Corona-Monaten also eine halbe Ewigkeit. Damals hatte sich der Chef der (halben) Kölner Hauscompagnie explizit auf den ansteigenden Meeresspiegel bezogen: Zusammen mit seinem Lichtdesigner Matthias Singer entwickelte er einen Algorithmus der Messdaten zur akzelerierenden Eisschmelze im Nordpolarmeer in einzelne tänzerische Aktionen und deren Abfolge übersetzt.

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Immer wieder verdrängt ein sich ausbreitender schwarzer Fleck das Licht aus der Manege, durchbrechen Streicher die Stille, oder knarzendes Eis und leise fließendes Tauwasser. Vom Bühnenhimmel ragen Rohre herunter, aus denen Nebel strömt, wie giftiges Gas.

Selbstredend bleibt dieser Algorithmus für den Zuschauer eine Black Box. Vielleicht ist er auch eher eine Art Zufallsgenerator, das programmierte Äquivalent von John Cages I Ging, denn Siegal bezieht sich gleichzeitig auf „Ocean“, die letzte Arbeit, die der Jahrhundert-Choreograph Merce Cunningham gemeinsam mit seinem Lebenspartner Cage entwerfen konnte, bevor dieser starb.

Hin zur Natur

Die abgezirkelten, auf sich selbst verweisenden, technisch meisterlich ausgeführten Bewegungen verweisen jedenfalls eindeutig auf Cunningham und dessen Zufallsprozesse. Diese befreiten in den 1950er Jahren nicht nur den Tanz vom Korsett der Musik, sie führten ihn auch weg vom menschlichen Handeln und näher zur Wirkungsweise der Natur.

So verbirgt sich hinter Siegals streng-abstraktem Werk eine politische Forderung, keine sonderlich originelle, wohl aber die einzig richtige: Es sei ein kurzsichtiger Trugschluss, sagt der Choreograph im Gespräch, dass wir uns getrennt von unserer Umwelt und anderen Spezies betrachten könnten. Insofern ist die Pandemie Folge desselben menschlichen Denkfehlers wie die Klimakatastrophe.

Nun hat Siegal seine Arbeit unter Corona-Bedingungen zur (Aus-)Dauerperformance gestreckt: Tanzfreunde können den Zugang zum „New Ocean Cycle“ in Zeitfenstern von einer Dreiviertelstunde buchen, sie können die Choreographie statt aus einer fixen Perspektive aus jedem möglichen Gradwinkel von 360 betrachten, können auch bleiben, solange sie wollen.

Sechs Stunden Tanz

Getanzt wird bis zu sechs Stunden lang, 14 fantastische Tänzer wechseln sich ab, denn die Compagnie hat sich im Vergleich zur vergangenen Saison noch einmal verdoppelt, und allein um die einzelnen Tänzer-Persönlichkeiten, die bei der Strenge der Choreographie umso deutlicher hervortreten, kennenzulernen, möchte man eine Zeit verweilen.

Alle 45 Minuten beginnt ein neuer Zyklus, eingeleitet vom immer gleichen Taj-Mahal-Song, der so zum mahnenden Mantra wird: „Du vermisst dein Wasser erst, wenn dein Brunnen ausgetrocknet ist.“

„New Ocean Cycle“ mit Claudia Ortiz Arraiza, Diovanni Da Silva Cabral, Martina Chavez, Jemima Rose Dean, Livia Gil, Gustavo Gomes, Douglas De Almeida Lima, Mason Manning, Nicolas Martinez, Andrea Mocciardini, Margarida Isabel De Abreu Neto, Evan Supple, Zuzana Zahradnikova, Long Zou.Termine: 10. (ab 18 Uhr), 11. Oktober (ab 16 Uhr), Depot 1

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