Rezension zu Guy Sterns MemoirenBewegende Erinnerungen eines jüdischen Emigranten

Guy Stern spricht im Mai 2029 im niedersächsischen Landtag.
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Köln – Wie gelang es dem gerade 15-jährigen Günther Stern 1937, das rettende Visum für die Emigration in die USA zu erhalten? Was genau hatte er als Ritchie Boy 1944/45 bei der amerikanischen Feindaufklärung im besetzten Frankreich zu tun? Wohin brachte er, als renommierter Germanistikprofessor in den USA, die Exilforschung? Und warum entschloss er sich erst 2019, fast hundertjährig, zur Annahme der deutschen Staatsbürgerschaft?
Das Leben von Günther Stern, der sich in Amerika dann Guy nannte, steckt voller spannender Geschichten. So außergewöhnlich ist dieser Lebenslauf, dass er sich daran machte, ihn zu erzählen. Entstanden ist ein Erinnerungsbuch von herausragender Bedeutung. Es umfasst ein Lebensjahrhundert: Vorkrieg, Kriegseinsatz und Nachkrieg, eine germanistische Karriere und einen beispielhaften Einsatz für die Erinnerung an den Holocaust. 2020 ist die amerikanische Fassung erschienen. Sie trägt den Titel „Invisible Ink“. Das geht auf eine frühe Warnung seines Vaters zurück, eines jüdischen Kaufmanns in Hildesheim. Als Hitler an die Macht kam, ermahnte Julius Stern seinen ältesten Sohn, unauffällig zu bleiben und mit unsichtbarer Tinte zu schreiben.
Buch und Lesung
„Wir sind nur noch wenige“ ist im Berliner Aufbau-Verlag erschienen, umfasst 304 Seiten und kostet 23 Euro.
Am kommenden Montag, 16 Uhr, werden Guy Sterns Memoiren in Lesung und Gespräch mit dem Autor in einer Online-Veranstaltung des Büros Washington der Adenauer-Stiftung vorgestellt. Registrierung zur Zoom-Lesung:
Die Übersetzung des Memoirs, die Sterns Frau Susanna Piontek mit Eleganz besorgte, ist soeben im Aufbau Verlag erschienen, pünktlich zum 100. Geburtstag des Autors. Der Titel „Wir sind nur noch wenige“ ist eine klare Ansage. Stern ist einer der letzten Zeitzeugen des 20. Jahrhunderts. Aber mehr noch als um das Zeugnis geht es ihm um das Erinnern und um das Erzählen von dem, was war.
Stern ist Jahrgang 1922. Als die Schikanen gegen Juden in Deutschland zunahmen, schickten die Eltern ihren Sohn nach Amerika; ihre Spuren und die der beiden Geschwister verlieren sich im Warschauer Ghetto, wahrscheinlich wurden sie in Auschwitz ermordet. Wie durch ein Wunder bekam der Teenager vom US-Generalkonsul in Hamburg die rettenden Einreisepapiere, fand dann zu Verwandten in St. Louis. Er amerikanisierte sich rasch, interviewte als Redakteur der Schülerzeitung die Jazzlegende Benny Goodman, befragte Thomas Mann auf deutsch.
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Der deutsche Akzent versperrte ihm den Weg zu den Marines. Dafür nahmen ihn die Ritchie Boys auf. Sie wurden in Camp Ritchie, Maryland, in psychologischer Kriegsführung und in Verhörtechnik trainiert und kamen 1944 vor allem in der Normandie zum Einsatz. Stern war einer von diesen 15000 Ritchie Boys, Stefan Heym und Klaus Mann gehörten auch dazu. Man schätzt, dass sie fast zwei Drittel aller kriegsentscheidenden Informationen über Stellungsorte, Gefechtspläne, Kampfmoral und Waffentechnik geliefert haben. Von Situationsgeschick und Wortlist erzählt Guy Stern: Einmal schlüpfte er in die Uniform eines russischen Hauptmanns und spielte diese Rolle dem gefangenen Nazi so grimmig vor, dass der bereitwillig alles auspackte, was er wusste.
Liebe zur deutschen Sprache und Literatur
Die Liebe zum Theater, zur deutschen Sprache und Literatur brachte Stern zur Germanistik. Er lehrte an Unis in New York, Cincinnati und Detroit. Als Gastprofessor in Leipzig und Potsdam, München und Frankfurt am Main öffnete er den Studierenden den Hörsaal im konstruktiven Sinne als „Störsaal“. In den 1960er Jahren war er ein Pionier der Exilforschung, sagt aber bescheiden, dass es eigentlich die vertriebenen Künstler und Schriftstellerinnen wie die in Köln geborene Hilde Domin waren, die die Exilliteratur erfunden haben. Dem Aufklärer Lessing treu, ging es ihm immer um Klarheit und Menschengüte. Nach der Emeritierung, bereits in seinen Neunzigern, brachte er als Institutsdirektor des Holocaust Memorial Center in Detroit eine exemplarische Holocaust-Pädagogik auf den Weg.
Das Erinnerungsbuch eines amerikanischen Patrioten
Und stieß dabei auch auf die Initiatoren des rettenden Visums: Es war eine Gruppe jüdischer Frauen in Amerika, die bis Kriegsende über 1400 Kinder aus den NS-besetzten Ländern holten. Guy Sterns Erinnerungsbuch ist demgemäß das eines amerikanischen Patrioten. Als ihm 2019 die deutsche Einbürgerungsurkunde überreicht wurde, sagte er: „Ich bin, ohne mich von den Vereinigten Staaten abzuwenden, in Deutschland wieder angekommen“.