RomanVerena Güntner erzählt in „Power“ von einem Mädchen ohne Mitleid

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Verena Güntner neu

Autorin Verena Güntner

  • Die elfjährige Kerze lockt bei der Suche nach einem Hund die Kinder ihres Dorfes wochenlang in den Wald.
  • Was beginnt wie ein ungewöhnliches Kinderbuch wird schnell zu einer Parabel über den Zustand unserer Gesellschaft.
  • Unsere Kritik.

Köln – Kerze ist anders als andere Kinder. Sie ist elf Jahre alt, aber sie kennt keine Furcht, nicht mal vor dem Keingott, zu dem sie nicht betet und der ihr Geister schickt. Sie braucht auch keine Erwachsenen, die ihr die Welt erklären. Im Gegenteil. Die Leute im Dorf kommen zu ihr, wenn sie Hilfe brauchen, denn Kerze kann alles schaffen, was sie einmal zugesagt hat. Sie hält ihre Versprechen ein. Immer. „Sie glaubt schon sehr lange daran, dass sich die Welt ihrem Willen beugen wird. Es ist nur eine Frage der Zeit.“

Da wundert es nicht, dass die alte Hitschke zu Kerze kommt, als ihr Hund Power verschwunden ist. Kerze verspricht, das Tier zu finden. Von dieser Suche erzählt Verena Güntner in ihrem neuen Roman „Power“, der an diesem Dienstag im DuMont Verlag erscheint. Doch wer nun eine krimiähnliche Handlung erwartet, wird schon auf Seite 12 enttäuscht. Dort steht, wie es ausgeht: Kerze wird Power nach sieben Wochen Suche finden, tot, von Maden zerfressen.

Kerze treibt ihre Suche mit unbarmherziger Zielstrebigkeit voran. Sie schont weder sich noch andere. Jedes Verhalten, das nach weit verbreiteten Rollenklischees Mädchen zugeschrieben wird, ist ihr fern. Sie ist nicht zögerlich, Mitleid kennt sie nicht, sie ist hart gegen sich und gegen andere.

Als die anderen Kinder des Dorfes von ihrer Suche erfahren, möchten sie unbedingt mitmachen. Anfangs hat es etwas Spielerisches, wenn Kerze sie lehrt, wie ein Hund zu bellen, wie ein Hund auf allen vieren zu laufen und zu schnüffeln. Doch irgendwann führt sie alle Kinder des Dorfes wie der Rattenfänger von Hameln in den Wald, wo sie über Wochen leben, immer mehr verwildern. Die Eltern sind verzweifelt, sie wollen ihre Kinder zurück. Und sie machen schnell eine Schuldige aus für die Misere: Hitschke. Sie war es schließlich, die Kerze den Auftrag erteilte. Und sie muss nun erfahren, wie schnell man ausgestoßen, zum Sündenbock gemacht wird. Ihr Grundstück wird zugemüllt, ihr Haus mit Parolen beschmiert, ihr Wohnzimmer unter Wasser gesetzt.

Was beginnt wie ein ungewöhnliches Kinderbuch wird schnell zu einer Parabel über den Zustand unserer Gesellschaft – über Landflucht, die Dörfer langsam sterben lässt und jedes Gemeinschaftsgefühl zerstört, über Eltern, die die Verbindung zu ihren Kindern verlieren und über die Frage, wie wir mit denjenigen in unserer Mitte umgehen, die anders sind, die nicht so ticken, wie wir es von ihnen erwarten.

Mit einem sehr eigenen – manchmal märchenhaften, mal absurden, mal radikalen – Erzählton gelingt es Güntner, die vielen Ebenen ihrer Handlung in Balance zu halten und zu verweben. Nach und nach führt sie weitere Figuren ein – die anderen Kinder, den Sohn des gnadenlosen Huberbauern, die alte Lungeroma und Henne, der ein Nazi sein will, weil er Angst hat, dass man ihm etwas wegnimmt, wie Kerze mutmaßt. Auch Hitschkes Lebensweg wird beleuchtet, sie erinnert sich an ihre unglückliche Ehe, den Mann, der sie verließ, ihre verblassten Hoffnungen auf etwas Glück.

Doch das Zentrum der Erzählung bleibt zu jedem Zeitpunkt Kerze. Konsequent verweigert Güntner ihren Lesern einfache Deutungen, was dieses ungewöhnliche Kind angeht. Sie ist ein ambivalenter Charakter, „ein Licht in dieser rabenschwarzen Welt“, wie die Dorfbewohner sagen.

Aber sie ist eben auch eine Anführerin, die keinen Widerstand duldet, die den anderen Kindern, wenn sie ihr nicht gehorchen, ihren Willen aufzwingt, sie bestraft, indem sie sie zwingt, trockene Tannenzapfen zu essen. Die alles ihrem Ziel unterordnet.

So ist die Suche nach Power auch eine Geschichte über die Frage, ob der Zweck immer die Mittel heiligt und wie weit wir gehen dürfen, um das – vermeintlich? – Richtige zu erreichen. „Power“ ist ein ungewöhnlicher Roman, der mit Leseerwartungen bricht und deshalb lange nachwirkt.

DER ROMAN

„Power“ ist für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert. Auf der Shortlist stehen zudem Lutz Seiler mit „Stern 111“, Leif Randts „Allegro Pastell“, Maren Kames’ Roman „Luna Luna“ und „Die rechtschaffenen Mörder“ von Ingo Schulze.

Verena Güntner: „Power“, DuMont, 254 Seiten, 22 Euro.

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