Stephan Kimmig inszeniert Virginie Despentes Briefroman „Liebes Arschloch“ im Depot 1.
Schauspiel KölnSie können einem leidtun, diese lieben Arschlöcher

Birgit Unterweger als alternde Diva in „Liebes Arschloch“ im Depot 1 des Kölner Schauspiels
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Zufällig, postet Oscar auf Insta, habe er die Schauspielerin Rebecca Latté in Paris gesehen. Dann holt der frustrierte Autor zum Schlag aus. Die einst göttliche Frau sei zu einer Schlampe verkommen. Alt, auseinandergegangen, verlebt, schlechte Haut: „Eine einzige Katastrophe.“ Dann tanzt er einen irren Männlichkeitstanz zu „Hypnotize“ von Biggie Smalls: „Biggie, Biggie, Biggie, can't you see?/Sometimes your words just hypnotize me“ – es wirkt doch eher verzweifelt.
Die Bühne dreht sich, wie die Social-Media-Süchtigen, um sich selbst. Die böswillige Nachricht hat Rebecca erreicht und die Diva tippt nun eine gepfefferte Antwort in ihr Endgerät ein. Sie fängt mit „Liebes Arschloch“ an und endet mit dem Wunsch, Oscars hypothetische Kinder mögen von einem Lastwagen überfahren werden, dass ihnen die Augen aus den Höhlen spritzen.
Das klingt nicht wie der Anfang einer wunderbaren Freundschaft. Ist es aber doch. Virginie Despentes, Frankreichs Lieblings-Skandalautorin, hat mit ihrem Briefroman „Liebes Arschloch“ gewissermaßen das Negativ zu Choderlos de Laclos' „Gefährliche Liebschaften“ vorgelegt. Wo beim Rokoko-Autor in gewählten Worten die größten Gemeinheiten ausgeheckt werden, beschimpfen sich Despentes' Protagonisten aufs Gröbste, verbünden sich dabei jedoch zu einer Art Selbsthilfegruppe, um sich gegenseitig die eigenen Süchte und Charakterdefizite zu exorzieren.
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Despentes' Protagonisten beschimpfen sich aufs Gröbste
Der Regisseur Stephan Kimmig lässt die beiden Brieffeinde im Depot 1 in Einzimmerapartments aus Sperrholzplatten rotieren. Gerade erst feierte seine Adaption von Emmanuel Carrères Gerichtsreportage „V13“ Premiere, jetzt also diese Übernahme aus dem Wiener Volkstheater. Sie sind allein und doch ist der jeweils andere im privaten Rückzugsraum als Live-Projektion präsent, stets ein wenig verzerrt, durch Stützbalken oder Vorhangfalten, die Bühne von Katja Haß und die Videoeinrichtung von Jan Isaak Voges und Lisa Rodlauer greifen hier sehr sinnig ineinander.
Ziemliche Arschlöcher sind sie beide, die biestige Diva, die nicht vom Heroin loskommt, und der selbstmitleidige Autor, der allenthalben als gecancelt gilt, nachdem eine netzbekannte Feminismus-Influencerin ihn als ihren vormaligen Stalker geoutet hat. Schauspielerisch weiß man gar nicht, was man mehr bewundern soll, Birgit Unterwegers messerscharf hinausgerotzte, die vierte Wand penetrierende Verbalattacken, oder Paul Grills Mut zur seelischen Hässlichkeit. So ein armes, Abscheu wie Mitleid erweckendes Würstchen geht gegen jede darstellerische Eitelkeit.
Schon die Romantrilogie „Vernon Subutex“ war in Köln zu sehen
Wie schon in ihrer Romantrilogie „Vernon Subutex“ – auch deren Adaption war am Schauspiel Köln zu sehen – verhandelt Despentes hier den moralischen Bankrott der Generation X, ihrer Generation, der zwischen 1965 und 1980 Geborenen. Die glänzte, so Rebecca, im Aushalten aller gesellschaftlichen Härten, feierte die Selbstverschwendung, das Kaputtsein – und perpetuierte so nur das Schlechte. Jetzt, sagt Oscar, stehe man ohne Hoffnung da, und lasse in dieser kollektiven Verzweiflung nur eine einzige Zukunftsvision zu, die der Dystopie.
Nach der Pause steht nur noch eine Wohneinheit auf der Drehbühne. Dafür ist eine dritte Perspektive hinzugekommen, die von Zoé, der von Oscar belästigten Influencerin. Der Wechsel zwischen hibbeliger Internet-Persona und niedergeschlagener Offline-Existenz gelingt Irem Gökçen sehr überzeugend: Der Backlash nach der #MeToo-Bewegung hat sie mit voller Wucht getroffen, das Opfer, das aufbegehrt, zieht den anonymen Arschloch-Mob beleidigter Maskulinisten an.
Als die Pandemie anbricht, verschärft sich die Situation der eh schon Vereinzelten. Altersdiskriminiert, gemobbt, gecancelt – und jetzt auch noch im Lockdown komplett auf sich selbst verwiesen. Absichtsvoll lässt Kimmig den Abend zerfransen, in wüste, geschwätzige Monologe, in eine wilde Mischung aus tieferen Einsichten und banalen philosophischen Spekulationen, aus euphorisch vorgetragenen Selbsterkenntnissen und Selbsteinweisungen in die geschlossene Psychiatrie. Man rennt zu Nick Cave gegen Windmaschinen an, tanzt eng in imaginierter Nähe oder ausgreifend zu Queens „The Show Must Go On“, man besucht Zoom-Meetings der „Narcotics Anonymous“ – oder sucht, weil es nicht mehr auszuhalten ist, unter den Zuschauern des Depots nach Drogen, Kokain, MDMA, Schokolade, egal was, wenn es nur den Schmerz des Daseins für einen Augenblick lindern kann.
Wird es irgendwann zu viel? Zu viel des Geredes, zu viel der Themen? Aber sicher. Doch im Roman ist genau dieses Zuviel ja Programm und auf der Bühne helfen die exzellenten Schauspieler, helfen, diese Arschlöcher, diese heillos verirrte Generation X, lieb zu gewinnen.

