Virale VideosEine kurze Geschichte des Youtube-Wutanfalls

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Szene aus „Bad Day“, einem der ersten viralen Videos 

Im Juni 2008, Youtube war gerade mal drei Jahre alt, ging auf der Internet-Plattform eine angebliche Videoaufzeichnung aus einem russischen Großraumbüro  viral. Zu sehen war, in körnigem Schwarz-weiß, ein Angestellter, der ohne Vorwarnung an seinem Schreibtisch ausflippte. Einem Kollegen die Tastatur seines Computers über den Schädel zog, bevor er Bildschirme nach seinen linken und rechten Tischnachbarn warf und anschließend fortfuhr, den Rest des  Büros mehr oder weniger systematisch zu zerstören.

Man guckte das Video mit einem wohligen Schauer – wer hatte nicht schon in dunklen Momenten davon geträumt, seine Wut an den digitalen Foltergeräten auszulassen – und zugleich mit einem schlechten Gewissen, schließlich waren ja Menschen zu Schaden gekommen. Was also unterschied diese Raserei eigentlich von einem Amoklauf? 

Später stellte sich heraus, dass  das Wutvideo gefälscht und Teil einer Marketingkampagne für den Angelina-Jolie-Thriller „Wanted“  war. Doch da war der Damm schon gebrochen: Fortan gehörten Überwachungskamera- und Amateuraufnahmen öffentlicher Wutanfälle zum festen Youtube-Repertoire, dazu kamen noch etliche Fernsehschnipsel von TV-Persönlichkeiten, die vor laufenden Kameras von allen guten Geistern verlassen wurden.

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Wir ergötzten uns an unzufriedenen Kunden, die einen Mobilfunk-Laden mit Hilfe eines Feuerlöschers auseinandernahmen, an Frühstücksfernsehen-Moderatorinnen am Rande des Nervenzusammenbruchs, die versuchen, die Paris-Hilton-Meldung, die sie eigentlich vorlesen sollten, mit einem kleinen Feuerzeug in Brand zu setzen, weil sie dazu nicht Journalistik studiert haben.

Wir verstanden die existenzielle Not des Mannes, der vor dem verschlossenen Eingang eines Einkaufszentrums steht, wie Kafkas Mann vom Lande vor dem Türhüter des Gesetzes, und dessen Wutschrei klingt wie ein Gebet: „Warum bist du geschlossen? Ich will shoppen! Sag mir den Grund, warum du zu hast!“

Wir klickten auch auf Zusammenschnitte von Skandalen aus der medialen Drei-Sender-Steinzeit, die erahnen ließen, dass die Menschen, entgegen der landläufigen Meinung, vor 50 Jahren genauso wenig Impulskontrolle besaßen.

Allen voran der legendäre TV-Auftritt von Nikel Pallat, damals Manager der Band Ton Steine Scherben. Der zückte im Dezember 1971 in der WDR-Talkshow „Ende offen“ mit den Worten „Und deswegen mach’ ich jetzt hier diesen Tisch kaputt“ das eigens mitgebrachte Beil aus dem Jackett.  Sein Wutanfall war inszeniert. Nur damit, dass das Möbel der „scheißliberalen“ Sendung dem Angriff von links widerstehen könnte, hatte Pallat nicht gerechnet.

Wer wünschte sich nicht heimlich, ein Beilchen in so manche Talkrunde zu tragen, um die persönliche Hackordnung zu verdeutlichen? Man stöhnt über die erwartbaren Phrasen wie über die eigenen, immer gleichen Alltag. Sehnt, hier wie da, einen Ausbruch aus den eingeübten Abläufen herbei – und delegiert ihn an Stellvertreter. Denn man ahnt ja, dass man sein Leben ohne Routinen nicht meistern könnte und dass einen unkontrollierte Ausbrüche am Ende nur wie eine arme Wurst dastehen lassen.

Dies ist die Lehre aus den stumpfen Gesichtern der Aggro-Avatare, nachdem sie ihren Computer in den Swimmingpool geworfen,  ihren Laptop mit einer Kreissäge zerteilt oder ihr Smartphone mit einem Baseballschläger traktiert  haben: Die schleichende Einsicht, dass man sich gerade selbst ins gesellschaftliche Abseits gestellt hat.

Deshalb gibt es noch eine zweite therapeutische Funktion solcher Wut-Videos: Die Freude an der Demütigung des Aus-der-Rolle-Gefallenen, man denke nur an Jürgen Klinsmanns Fuß, der in einer Batteriewerbung feststeckt.

Manchmal mag das bloßer Sozialneid sein: Wie lässig und geschmeidig gleitet der bärtige, sonnenbebrillte Skater, drei Coffee-to-go balancierend, dahin. Wie ungelenk dagegen stürzt er, den Kaffee verschüttend, und  wie cholerisch und nun eben gar nicht mehr cool wirkt er, als er sein Skateboard zertrampelt und eine Hälfte in den Asphalt schmettert.

Oft aber scheint hier eine höhere Gerechtigkeit zu walten: Wie bei der täglich wachsenden Zahl von Amateuraufnahmen sogenannter „Karens“, gemeint sind weiße (US-amerikanische) Frauen, die sich aufführen, als gehöre die Welt ihnen, die Polizei rufen, wenn ihnen Menschen anderer Hautfarbe auf ihrer Joggingrunde begegnen, ohne Maske im Supermarkt von Freiheit lärmen, oder eine Hilfskraft in einem Fast-Food-Restaurant rassistisch  beschimpfen, weil sie vergessen hat, ihr einen Kassenbon zu geben. 

Werden diese Wütenden dann von Sicherheitskräften oder Passanten scharf sanktioniert, freut man sich, dass manchmal doch die gleichen Regeln für alle gelten und die Norm stärker ist als die Wut.

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