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100 Jahre „Ulysses“Warum Sie James Joyce nicht zu lesen brauchen

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Die James-Joyce-Statue im Zentrum Dublins 

Dublin – So, Sie haben also den „Ulysses“ nicht gelesen? Dabei hätten Sie hundert Jahre Zeit gehabt. Am 2. Februar 1922 hat Sylvia Beach die Erstausgabe des Jahrhundertromans in Paris herausgebracht, pünktlich zum 40. Geburtstag seines Autors James Joyce. In den ersten Jahren war der „Ulysses“ noch als obszön verrufen, im Vereinigten Königreich war er bis 1936 indiziert, in Joyces irischer Heimat sogar bis in die 1960er hinein.

Spätestens dann jedoch greifen keine Entschuldigungen mehr, hat sich die Erkenntnis durchgesetzt hat, dass es sich bei dem Roman –zu gleichen Teilen, oder vielmehr gleichzeitig, hochexperimentell, klassizistisch und völlig alltäglich – um den Gipfelpunkt seiner literarischen Gattung handelt. Freilich einen verflixt komplizierten und noch dazu schwartendicken Gipfelpunkt.

Die Nase höher tragen

Weshalb der „Ulysses“ bis heute als Angstgegner unter den Klassikern gilt. Nicht ganz fair, bedenkt man wie komisch,  und lebenssatt Joyce seinen Jedermann Leopold Bloom durch Dublin stromern lässt. Aber der Ruf, „schwierig“ zu sein, lässt sich nur schwer wieder rückgängig machen: Wer den Roman gelesen hat, trägt die Nase etwas höher und da man sich so ein Benehmen nicht bieten lassen will, gibt es noch sehr viel mehr Kulturbeflissene, die zumindest behaupten, den „Ulysses“ gelesen zu haben, womöglich noch im Original.

Daran ist indes nichts Verwerfliches: Auch als heimlicher Nichtleser trägt man zum kulturellen Kapital eines Klassikers bei. Vielleicht sogar gerade, muss man sich als solcher doch umso mehr bemühen, die peinliche Leerstelle zu überdecken. Wer sich dagegen einmal fleißig durch die 1000 Seiten des Romans gerätselt hat, kann sich nach ein paar Jahren wahrscheinlich besser an den sportlichen Aspekt seiner Leistung erinnern, als an Themen und Inhalte des Werks: Genau mit diesem prahlt er ja auch.

Nora hat auch nicht gelesen

Das Verhältnis des Nicht-Lesers zum Werk ist folglich ein Ernsthafteres. Sollte, etwa aufgrund seines Jubiläums, der „Ulysses“ im Gespräch mit Freunden oder Bekannten aufpoppen, lassen Sie diese wissen, dass Joyce die Molly Bloom (die Penelope zum Odysseus Leopold Blooms) nach dem Vorbild seiner Frau Nora Barnacle gestaltet hat. Molly hat bekanntlich das letzte Wort, bestehend aus acht ellenlangen Sätzen, die im berühmtesten Orgasmus der Literaturgeschichte kulminieren.

Der Tag, an dem der Roman spielt, liefert heute als „Bloomsday“ den Einwohnern von Dublin eine alljährliche Entschuldigung zum Trinken bei Tageslicht. Bei diesem 16. Juni 1904 also handelt es sich um jenes Datum, an dem Joyce seine Nora zum ersten Mal ausführte (zum Schäferstündchen auf einer Parkbank). Süß, nicht? Nora Barnacle hat die Bücher ihres Mannes übrigens auch nicht gelesen.

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