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Bestseller-AutorinKritiker von Caroline Wahl haben ein merkwürdiges Verständnis von Literatur

6 min
Die Autorin Caroline Wahl bei der Weltpremiere des Films „22 Bahnen“

Die Autorin Caroline Wahl bei der Weltpremiere des Films „22 Bahnen“

Caroline Wahls neuer Roman „Die Assistentin“ ist wieder ein großer Bestseller. Trotzdem steht sie auf einmal heftig in der Kritik. 

Die Geschichte ist filmreif. Eine junge Frau ist unglücklich in ihrem Job, weiß nicht, wo sie hingehört. Um sich abzulenken, beginnt sie, einen Roman zu schreiben. Der wird ein großer Bestseller, ein weiterer folgt, außerdem gibt es eine Verfilmung. Und auch das dritte Buch steigt direkt auf Platz 1 der Bestseller-Liste ein.

Diese märchenhafte Geschichte ist Caroline Wahl, die in diesem Sommer 30 geworden ist, passiert. Aus einer unbekannten, gescheiterten Verlagsmitarbeiterin wurde fast über Nacht ein großer Star der deutschen Literaturszene. Am Anfang gefiel fast allen diese Aufstiegsgeschichte. Die Menschen mögen schließlich Märchen. Ihr Debüt „22 Bahnen“ wurde zum Lieblingsbuch der unabhängigen Buchhandlungen gewählt, in der Presse gelobt, von den Fans geliebt.

Happy End also? Ganz so einfach ist es nicht. Denn in der Zwischenzeit sind viele Dinge fast gleichzeitig passiert. Die Gefeierte wird auf einmal bei Social Media zum Teil heftig kritisiert, auch in Zeitungsrezensionen gibt es Häme. Es ist eine komplizierte Geschichte, die viel über unsere Gesellschaft und Debattenkultur aussagt. 

In „22 Bahnen“ und „Windstärke 17“ erzählt Wahl von zwei Schwestern. Im ersten Band stand die Ältere, Tilda, im Vordergrund, im zweiten war es ihre jüngere Schwester Ida. Sie wachsen mit einer alkoholkranken Mutter auf und finden beide auf ihre Art ihren Weg, dieses Trauma zu überwinden. Es geht ums Erwachsenwerden, ums Loslassen, um die Suche nach sich selbst und um die Liebe. Wahl erzählt jeweils aus der Ich-Perspektive der Schwester, die im Mittelpunkt steht. Es ist leicht, sich in diese jungen Frauen hineinzufühlen, ihren Weg mitzugehen. Es gibt viel Schmerz, aber Caroline Wahl liebt Happy Ends. Und so ist da auch immer irgendwie das Gefühl, dass alles gut wird. 

Sie beschreit den Machtmissbrauch sehr präzise

Ihr neuer Roman ist anders. In „Die Assistentin“ erzählt sie von Charlotte. Die ist Ende 20, weiß nicht so recht, wie es beruflich für sie weitergehen soll. Eigentlich will sie Musik machen, aber wie soll man davon leben? Also nimmt sie eine Stelle als Assistentin eines Verlegers in München an. Sie hasst die Stadt, ist einsam, spürt, dass der Job ein Fehler war. Nun erzählt Wahl nicht mehr aus der Ich-Perspektive. Sie schafft Distanz, nutzt literarische Stilmittel, nimmt Teile der Handlung voraus, kehrt dann wieder zurück, kündigt an, später auf bestimmte Aspekte der Geschichte zurückzukommen. 

Vor allem aber seziert sie den Machtmissbrauch durch Charlottes Chef Ugo Maise. Seine Marotten, seine unsinnigen Wünsche, seine narzisstische Persönlichkeit. Mal ist er nett, dann droht er aus dem Nichts mit Kündigung. Er ist übergriffig, kommentiert Charlottes Kleidungsstil, ihre Frisur. Manchmal berührt er sie wie zufällig. Er will, dass sie zu ihm nach Hause kommt, um dort zu arbeiten. Er ruft sie zu jeder Tages- und Nachtzeit an.

Caroline Wahl beschreibt das sehr präzise. Maise weiß um das Machtgefälle und nutzt es aus. Und Charlotte tut, was viele Opfer solch missbräuchlichen Verhaltens tun. Sie gibt sich die Schuld an Fehlern, die keine waren. Sie vertraut ihrem Gefühl nicht, das ihr sagt, dass er sie so nicht behandeln darf. Sie glaubt, wenn sie sich nur noch mehr anstrengt, wird es ihr gelingen, ihn zu überzeugen. Sie will Kolleginnen ausstechen und macht sich so zur Komplizin.

Es war eine mutige Entscheidung von Caroline Wahl, mit den Erwartungen vieler Fans zu brechen. Die hätten lieber etwas im Stil von „22 Bahnen“ und „Windstärke 17“ gelesen. In den Bewertungsportalen häufen sich schlechte Kritiken. Sie aber zeigt, dass sie sich weiterentwickeln will. Und sie nutzt die Macht, die sie durch ihren Erfolg erlangt hat, um auf den Machtmissbrauch hinzuweisen, der in unser patriarchalen Gesellschaft noch immer Alltag ist.

Einkalkulierter Skandal

Ja, Wahl kalkuliert sicher auch den Skandal ein, weil die Parallelen zu ihrem eigenen Leben offensichtlich sind. Sie selbst war unglücklich als Assistentin des Verlegers des Diogenes Verlags in Zürich. Sie mochte die Stadt nicht, war einsam. Und nun fragen sich alle, ob dieser tyrannische Roman-Chef ihr Chef ist. Wahl verneint das. Aber die Aufregung ist natürlich groß. Sie hat sicher auch Spaß an der Provokation. Kann man ihr das vorwerfen?

Und plötzlich werden auch ihre ersten beiden Romane scharf kritisiert. Als Tochter aus gutbürgerlichem Hause sei sie gar nicht in der Lage, angemessen über die Armut zu schreiben, in der Tilda und Ida aufwachsen. Natürlich ist es legitim, die Darstellung gesellschaftlicher Missstände in einem Roman zu kritisieren. Aber zu sagen, es dürfe nur jemand über Armut schreiben, der oder die sie selbst erlebt hat, offenbart ein merkwürdiges Verständnis von Literatur. 

Interessant ist auch die Wucht und oft Häme, mit der Wahl gerade bei Social Media attackiert wird. Ihr Kleidungsstil, ihre Frisur, ihr Sportwagen oder die Art, wie sie das Hörbuch eingesprochen hat – alles scheint sie in den Augen ihrer Hater falsch zu machen. Aus der Märchen-Prinzessin ist plötzlich die böse Hexe geworden. Warum eigentlich? Das hat, neben der inhaltlichen Neuausrichtung, auch mit ihrem Auftreten zu tun. Eine junge Frau darf gern erfolgreich sein, aber sie soll sich dann doch bitte an die Regeln halten. Und die sagen: Lächeln, freundlich und bescheiden sein.

Caroline Wahl hat darauf offensichtlich überhaupt keine Lust. Sie wollte den Erfolg, sie freut sich über ihn. „Ich möchte in irgendeiner Sache die Beste sein“, sagte sie im Gespräch mit dieser Zeitung vor ein paar Monaten. Sie will die Bestseller, sie ist sicher, sie zu verdienen. Und sie sagt auch selbstbewusst, dass sie den Deutschen Buchpreis gewinnen will. Als sie für „Windstärke 17“ nicht nominiert war, machte sie ihre Enttäuschung öffentlich. Auch dafür gab es viel Gegenwind. Bei Männern wird so viel Selbstbewusstsein als Stärke interpretiert, Frauen gelten hingegen schnell als karrieregeil und verbissen. Und wenn sich Wahl dann aber unter kritischen Posts äußert, sich verletzlich zeigt, zugibt, dass ihr der Gegenwind zusetzt, ist es auch falsch. Sie kann es nicht richtig machen.

Am Ende, wünscht sich Caroline Wahl, soll alles gut ausgehen in ihren Romanen. Ihren Figuren schenkt sie daher ein Happy End, zumindest irgendwie. Ihre eigene Geschichte ist ganz sicher noch lange nicht fertig geschrieben. Ob es ein Happy End gibt, weiß niemand. Aber Caroline Wahl hat den Mut, sich nicht vorschreiben zu lassen, welchen Weg sie geht, um es zu finden. Und das ist mehr als die meisten ihrer Kritiker von sich behaupten können.


Caroline Wahl: „Die Assistentin“, Rowohlt, 368 Seiten, 24 Euro, E-Book: 19,99 Euro.

Ihren neuen Roman stellt Caroline Wahl bei der lit.Cologne Spezial vor. Am 18. September, 21 Uhr, spricht sie im WDR-Funkhaus mit Emily Grunert über „Die Assistentin“. Es gibt nur noch Restkarten. Wir verlosen 3 x 2 Tickets. Wenn Sie gewinnen möchten, schicken Sie bitte eine Mail mit dem Betreff „Caroline Wahl“ und Ihren vollständigen Namen bis 15. September, 12 Uhr, an:
ksta-kultur@kstamedien.de