Abschied von der MutterBewegendes Fotobuch von Deanna Dikeman

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Köln – Zu den Belastungen des Älterwerdens gehört, dass Abschiede zunehmend schwerer fallen – weil man nie weiß, ob es nicht vielleicht der letzte ist. Zu den großen Stärken des Mediums Fotografie gehört wiederum, dass es vermeintlich belanglose Momente festhält, die mit wachsendem zeitlichen Abstand große Bedeutung erhalten können.

In den Bildern der amerikanischen Fotografin Deanna Dikeman kommen diese beiden Aspekte zusammen. 27 Jahre lang hat sie ihre Eltern Gerald und Pat dabei fotografiert, wie diese vor ihrem Haus in Sioux City im US-Bundesstaat Iowa stehen und ihrer Tochter zum Abschied zuwinken. Angefangen hat Dikeman 1991 eher durch Zufall und beendet hat sie das Projekt 2017 nach dem Tod ihrer Mutter – und mit einem Foto des verlassenen Hauses.

27 Jahre lang hat Dikeman ihre zum Abschied winkenden Eltern fotografiert

90 Bilder sind in diesem Zeitraum entstanden, 66 hat Dikeman nun in ihrem Fotobuch „Leaving and Waving“ versammelt. Es ist ein kleines, liebevoll gestaltetes, sehr zärtliches Buch geworden, das bereits auf den ersten Seiten erahnen, ja: befürchten lässt, wie es enden wird. Bis dahin sehen wir das Ehepaar als freundlich-liebevolle Konstante im Leben der Fotografin.

Auf manchen taucht sie selbst auf – als Reflexion im Außenspiegel. Hockt 1995 ein Hund auf dem Beifahrersitz, liegt zwei Jahre später plötzlich ein Säugling im Fond des Wagens und 2013 hält Dikeman fest, wie ihre Mutter ihren heranwachsenden Sohn fest umarmt.

Frühe Aufnahme in Schwarz-weiß: Die Eltern Pat und Gerald winken vor ihrem Haus

Frühe Aufnahme in Schwarz-weiß: Die Eltern Pat und Gerald winken vor ihrem Haus

Wir sehen aber eben auch, wie ihre Eltern älter werden und wie es ihrem Vater im Laufe der Zeit immer schlechter geht. Erst taucht ein Gehstock auf, dann eine Vierfuß-Gehstütze. Im Juli 2009 hilft ihm seine Frau, den Arm zum Abschiedsgruß zu heben, einen Monat später entsteht das letzte Foto des damals 91-Jährigen. Darauf stehen Gerald und Pat in der offenen Garage und schaffen es offensichtlich nicht mehr, die Auffahrt hinunter zu gehen wie bei früheren Abschieden. Dennoch lächeln sie ihrer Tochter zu.

Ob sie bereits ahnten, dass dieser Abschied der letzte sein wird? Auf dem nächsten Bild ein Jahr später ist Dikemans Mutter dann plötzlich alleine zu sehen. Trauer und Müdigkeit haben sich in ihr Lächeln geschlichen. Das Bild ist aber auch deshalb außergewöhnlich, weil es von allen am ehesten einem klassischen Porträt entspricht und Pat fast den gesamten Raum einnimmt – als wollte sich die Fotografin der Existenz ihrer Mutter noch einmal ganz besonders vergewissern.

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2017 benötigte Pat schließlich Betreuung und zog in eine neue Wohnung, wo Dikeman sie vor einem Muttertagsschild fotografierte. Fünf Monate später starb sie. Doch weil Dikeman ihre Serie nicht vor der Tür dieser neuen Wohnung beendet wollte, ging sie zurück und fotografierte das verlassene Haus, vor dem sie drei Jahrzehnte lang regelmäßig Abschied genommen hatte. „Ich habe 45 Minuten gebraucht, um dieses eine Foto zu machen“, erinnert sich die 66-Jährige. „Es war auch deshalb ein außergewöhnlicher Moment, weil ich wusste, dass mit diesem Bild eine Ära vorbei geht.“

2019 stellte sie ihre Fotos zu einem Fotobuch-Dummy zusammen und reichte es bei einem Wettbewerb ein. Den gewann sie zwar nicht, landete aber unter den Finalisten. Das Magazin „The New Yorker“ berichtete über ihre Fotos und plötzlich bekam Dikeman berührende E-Mails aus der ganzen Welt und gleich fünf Verlage meldeten sich bei ihr, weil sie das Buch veröffentlichen wollten.

Ob es ihr schwerfalle, sich die alten Fotos immer wieder anzuschauen, wurde sie kürzlich bei einer Buchclub-Runde gefragt. „Nein – jedenfalls bringt es mich nicht zum Weinen“, antwortete sie. „Es ist eher, als würde ich gute alte Freunde sehen, die auf einmal ein neues Kleid oder einen neuen Haarschnitt tragen.“

Deanna Dikeman: „Leaving and Waving“, Verlag Chose Commune, 112 Seiten, ca. 55 Euro.

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