Interview mit Jean-Michel Jarre„Die Technologie geht der Kunst immer voraus“

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Jean-Michel Jarres neues Album soll am 21.10.2022 erscheinen.

  • Jean-Michel Jarre ist Musiker und Pionier für elektronische Musik
  • Für sein neues Album „Oxymore“ möchte er seine Musik mit einer eigenen Virtual-Reality-Welt erlebbar machen
  • Im Gespräch erläutert Jarre, wie neue Technologien das Produzieren von Musik verändern werden

Jean-Michel Jarre, das letzte Mal, dass ich Sie im Konzert gesehen habe, war mitten im Lockdown: In der Silvesternacht 2020/21 haben sie ein Set im virtuellen Notre Dame gespielt.

Jean-Michel Jarre: Die Covid-Zeit war wirklich sehr düster, aber sie hat auch unsere Beziehung zu digitalen Tools beschleunigt. Wir gehen jetzt anders mit der Außenwelt um. Für mich war das eine Gelegenheit, die Möglichkeiten der virtuellen Realität zu erforschen.

Zusammen mit Ihrem neuen Album „Oxymore“ bringen Sie eine Virtual-Reality-Welt namens „Oxyville“ auf den Markt. Ein Marketing-Gag?

Alles zum Thema Film und Fernsehen

Nein, das ist viel mehr. Wenn wir über virtuelle Realität sprechen, denken wir vor allem an das Visuelle, kaum an den Klang. Dabei umfasst das visuelle Feld eines Menschen nur 140 Grad, sein Audiofeld dagegen 360 Grad. Der Ton ist also wichtiger für das Gefühl der Immersion als die visuelle Darstellung. Mit der heutigen Technologie können wir zu einer natürlichen Art des Hörens von Klängen zurückkehren. Im wirklichen Leben gibt es kein Stereo. Ich spreche zu Ihnen in Mono, aber gleichzeitig hören Sie, wie der Typ hinter uns Stühle abräumt und die Leute um uns herum sich unterhalten.

Das sind nur Umweltgeräusche. Ich höre Ihnen zu, weil Sie vor mir sitzen.

Aber warum sollte man eine frontale Beziehung zur Musik haben? Wenn man für ein Symphonieorchester schreibt, stellt man sich das Orchester mit den Streichern in der Mitte, dem Schlagwerk im Hintergrund, etc. Doch in der modernen Musik hat man nur zwei Lautsprecher vor sich. Die einzige Möglichkeit, die Immersion wirklich zu erforschen, besteht darin, Musik von Grund auf für so ein 360-Grad-Erlebnis zu schreiben. Das ist ein völlig anderer Ansatz der Komposition. Genau darum geht es bei „Oxymore“, um den Umgang mit dem Raum.

Jean-Michel Jarre sieht mit technologischer Entwicklung auch eine Veränderung der Musik

Dann diktieren die technischen Möglichkeiten die musikalischen Inhalte?

Ich denke, die Technologie geht der Kunst immer voraus. Weil die Geige erfunden wurde, konnte Vivaldi die „Vier Jahreszeiten“ komponieren. Ohne den Kinematographen gäbe es keinen Fritz Lang oder Godard oder Tarantino.

Sie glauben also, dass die Virtuelle Realität einen neue Musik hervorbringen wird?

Ja, all diese immersiven Werkzeuge werden eine völlig neue Art und Weise hervorbringen, Musik zu kreieren.

Zur Person

Jean-Michel Jarre wurde 1948 in Lyon als Sohn des Filmkomponisten Maurice Jarre und der Résistance-Aktivistin France Péjot geboren. Bei Pierre Schaeffer studierte er Ende der 1960er die „Musique concrète“. Mit „Oxygène“ gelang ihm 1976 ein Welterfolg, den er seitdem mit spektakulären Open-Air-Konzerten vor Millionen Zuschauern vermehrt hat. Sein neues Album „Oxymore“ erscheint am 21. 10. bei Sony.

Seit rund 60 Jahren hören die meisten Menschen Musik in Stereo und scheinen nichts zu vermissen.

Ich glaube auch nicht, dass Stereo falsch ist. In den 1940er Jahren gab es kluge Köpfe, die sagten: Wir müssen dieses Gefühl von Raum schaffen. Was haben sie getan? Sie haben den rechten Kanal gegenüber dem linken Kanal verzögert, um ein Gefühl von Raum zu erzeugen. Das ist großartig, aber es ist eine Illusion. So hört man nicht im wirklichen Leben. Heute haben wir die Entwicklung des Metaverse, des Web 3.0. Oder denken sie an selbstfahrende Autos, die sich immer mehr in Auditorien verwandeln. Die nächste Generation wird Stereo in etwa so betrachten, wie wir heute Grammophone und Mono-Aufnahmen.

Das neues Album „Oxymore“ ist Musik für eine spezielle Umgebung

Als ich nach dem Lockdown endlich wieder ins Kino ging, wirkte vor allem der Sound wie eine ganz neue Erfahrung.

Das ist ein sehr interessanter Punkt. All diese Techniken wie Dolby Atmos sind für Filme und Kinos entwickelt worden, nicht für Musiker. Als Musiker müssen wir uns diese Techniken also aneignen. Mit „Oxymore“ habe ich versucht, Musik für diese spezielle Umgebung zu schreiben. Mein Tontechniker und ich haben ein Mehrkanal-Mischpult für den Mastering-Prozess verwendet, wie es sonst nur für Filme zum Einsatz kommt.

Aber gibt es nicht Unterschiede zwischen dem Kinoerlebnis und der Art, wie wir Musik hören?

Ja, im Kino sollte man immer die Dialoge vor sich haben und die Geräusche und Musik um sich herum. Bei Musikern müssen wir eine äquidistante Beziehung zu allem um uns herum haben. Das ist der Grund, warum ich mich gerade in London mit den Chefingenieuren von Dolby getroffen habe. Ich habe zu ihnen gesagt: Bitte denkt an uns Musiker. Ihr müsst uns die richtigen Werkzeuge zur Verfügung stellen.

Musiker Pierre Henry war eine große Inspirationsquelle

Den anderen wichtigen Impuls für Ihr neues Album lieferte Pierre Henry, einer der Wegbereiter der elektronischen Musik.

Vor einigen Jahren hatte ich mit Pierre Henry an einem gemeinsamen Album gearbeitet, aber dann ist er gestorben. Irgendwann hat mich seine Witwe kontaktiert und mir gesagt, dass Pierre ein paar Sounds für mich hinterlassen hätte. Für mich ist die elektroakustische Musik die Musik des europäischen Kontinents, sie kommt aus Frankreich, aus Deutschland, sie entstammt unserem gemeinsamen klassischen Musikerbe. Nur, dass die Pioniere der elektroakustischen Musik nicht nach Noten, sondern auf der Basis von Klängen komponierten.

Unter einem Oxymoron versteht man das Zusammenfügen zweier gegensätzlicher Elemente. Das ist genau das, was die elektroakustische Musik mit Hilfe des Sampling macht: Man kann den Klang des Regens mit dem Klang der Gitarre mischen, oder den Klang eines Vogels mit dem Klang einer Posaune, ein surrealistischer Zugang. Wir leben in einer Zeit der Oxymorone: Virtuelle Realität, künstliche Intelligenz, auch Musique concrète. Pierre Henry war nicht nur einer der Pioniere dieses Genres, sondern auch einer der ersten, die mit Raumklang arbeiteten. Das Album ist also eine Hommage an ihn und auch an diese europäische Art elektronische Musik zu erschaffen.

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In den 1970ern haben Sie mit Pierre Schaeffer, dem anderen großen französischen Elektronik-Pionier, Karlheinz Stockhausen im Studio für elektronische Musik in Köln besucht, nicht wahr?

Ja, aber ich habe nicht im Studio gearbeitet. Es gab damals einen regen Austausch zwischen Paris und Köln. Stockhausen hat ja auch immer über die Beziehung zwischen Musik und Raum nachgedacht. Das war damals die Avantgarde: Stockhausen, Schaeffer, Xenakis. Vielleicht sind nicht alle ihre Stücke zu Klassikern geworden, aber der Art, wie sie über das Komponieren nachdachten, verdanken wir viel. Viele denken ja, Techno wäre in den späten 1980ern in Detroit entstanden. Nein, der begann genau hier [er klopft auf den Tisch].

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