Vermutlicher Suizid nach Morddrohungen„Digitale Gewalt verfolgt eine Strategie“

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Gedenkveranstaltung an die Ärztin Lisa-Maria Kellermayr. 

Berlin – Beim Umgang mit Hasskriminalität im Internet muss Deutschland sich deutlich verbessern, findet Josephine Ballon. Die Leiterin der Rechtsabteilung von HateAid, einer Beratungsstelle für Betroffene digitaler Gewalt, sagt im Gespräch mit dem „Kölner Stadt-Anzeiger“: „Polizei und Justiz haben in Sachen digitaler Gewalt einen großen Nachholbedarf. Es braucht Schulungen, um die Ermittelnden zum einen für das Thema zu sensibilisieren und ihnen zum anderen bessere Wege aufzuzeigen, um die Hasskriminalität im Netz zu verfolgen.“

Es gebe hierfür aktuell nicht genug Ermittlungsmöglichkeiten. „Oft ist es sehr schwer, die Täter überhaupt zu identifizieren, wenn sie ohne Klarnamen in den Sozialen Medien unterwegs seien“, so die Expertin.

Aus dem Grund hält sie einen Fall wie den der österreichischen Ärztin Lisa-Marie Kellermayr, die nach Monaten voller Beschimpfungen und Morddrohungen durch Impfgegner und Corona-Leugner im Internet tot in ihrer Praxis aufgefunden wurde, auch in Deutschland für vorstellbar. Die Polizei geht bei der Medizinerin von Suizid aus.

Kellermayr hatte Ende Juni angekündigt, ihre Praxis in Seewalchen am Attersee vorübergehend zu schließen. Sie habe sich schlicht die erforderlichen Sicherheitsmaßnahmen gegen Corona-Leugner und Impfgegner, darunter auch einen Wachmann, nicht mehr leisten können. Mitte Juli gibt Kellermayr den Drohungen nach und schließt ihre Praxis endgültig. Sie habe ihren Mitarbeitenden keine Perspektive mehr bieten können, „unter normalen Umständen“ zu arbeiten, sagte die Medizinerin damals dem „Spiegel“.

Angst vor Hetzern im Internet ist real

Die Angst vor Hetzern, die Kellermayr immer wieder mit Leid und Tod bedrohten, die gefühlte Machtlosigkeit, gegen diese Menschen vorgehen zu können, die Aufgabe ihrer Praxis als Selbstschutz in letzter Konsequenz – der letzte Ausweg Selbsttötung: Ballon kennt viele solcher Fälle, in denen digitaler Hass das Leben von Bedrohten entscheidend beeinflusst. Die Organisation HateAid, für die sie arbeitet, berät nicht nur, sondern hilft auch bei der Prozessfinanzierung solcher Fälle.

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Josephine Ballon

Über HateAid

Da Betroffene von Hass im Netz oft alleine dastehen und vor allem kaum rechtliche Unterstützung erhalten, entstand im Dezember 2018 die gemeinnützige Organisation HateAid. Seitdem wurden mehr als 1000 Menschen beraten und unterstützt. HateAid bietet auch Prozesskostenfinanzierung, das heißt, Opfer können ohne eigenes Kostenrisiko gegen die Täter und Täterinnen oder auch gegen Online-Plattformen vorgehen. Rechtsanwältin Josephine Ballon ist HateAids juristische Stimme nach außen.

„Morddrohungen zu erhalten, ist eine enorme psychische Belastung“, sagt sie, und betont: „Man kann nicht einfach sagen: „Das eine ist das echte Leben und das andere das Internet, das kann man auch abschalten.„“ Ballon kritisiert, dass es in Deutschland – wo solch ein Fall ihrer Meinung nach genauso möglich wäre – zu wenig Anlaufstellen für Betroffene gebe und die Ermittlungsbehörden sowie die Justiz nicht darauf vorbereitet seien.

Böhmermann-Experiment nicht überraschend

Deswegen habe sie ein Ende Mai von Jan Böhmermann im „ZDF Magazin Royale“ veröffentlichtes, viel beachtetes Experiment, bei dem herauskam, dass Hasskommentare im Internet kaum verfolgt werden, nicht überrascht, sagt Ballon. Neben den fehlenden Ermittlungsmöglichkeiten sei auch das Gespür für den Umgang mit Hass im Netz in einigen Behörden gar nicht da: „Wenn einer Betroffenen gesagt wird, es sei doch nur das Internet, dann sollte sie sich dort eben abmelden oder nichts mehr schreiben, ist das bitter“, sagt Ballon.

Zumal etwa eine Ärztin wie Kellermayr aus Österreich auch für ihre Arbeit auf eine Website angewiesen sei und somit jeder wisse, wo sie arbeite, eventuell sogar, wo sie ungefähr wohne. Durch die Praxis sei sie lokal verwurzelt. „Das Bedrohungsszenario ist sehr real“, so Ballon. Lokale Sicherheitsbehörden müssten das ernst nehmen.

„Aussagen von Polizeibeamten, die das nicht ernst nehmen, führen dazu, dass viele Leute Beleidigungen oder Bedrohungen im Internet gar nicht mehr anzeigen“, sagt sie. Immer wieder hörten sie in der Beratung bei HateAid von solchen Fällen. „Betroffene sind sehr hilflos und fühlen sich von staatlichen Institutionen alleingelassen.“ Auch die Ärztin Kellermayr fühlte sich von den Polizeibehörden im Stich gelassen, berichtete „Der Spiegel“.

Expertin fordert „strukturelle Unterstützung von Betroffenen“

Deswegen fordert Ballon „strukturelle Unterstützung von Betroffenen, die sie ernst nimmt“. Auch Anzeigemöglichkeiten müssten niedrigschwelliger werden. Anzeigen von digitaler Gewalt seien oft immer noch kompliziert, sagt sie. Man müsse etwa Screenshots ausdrucken, anstatt dass man diese einfach online einreichen könne.

Neben der Weiterbildung von Polizei und Justiz müssten auch „flächendeckende Beratungsangebote für Opfer digitaler Gewalt“ geschaffen werden, so die Expertin. Dazu gehöre psychosoziale Beratung, aber auch Beratung in Sicherheitsfragen sowie im technischen Umgang mit solchen Hasskommentaren im Internet.

„Was an Hass und Bedrohungen im Internet passiert, ist sehr bedrohlich in seiner Dynamik und Masse“, warnt Ballon. Sie ist sich sicher: „Digitale Gewalt verfolgt eine Strategie.“ Sie baue Angst auf, indem sie nicht nur der direkt von den Bedrohungen betroffenen Personen schade, sondern auch anderen zeige: „Das kann dir auch passieren.“

Ballon betont, dass es bei digitaler Gewalt selten um die Person selbst oder den Einzelfall gehe, sondern gegen eine größere Gruppe – und dennoch sehr persönlich die einzelnen Menschen treffe. „Aber digitale Gewalt wirkt sich auch auf uns alle aus“, betont sie. Sie verändere den Diskurs, Menschen zögen sich aus Angst aus der öffentlichen Debatte zurück. „Das macht etwas mit unserer Meinungsfreiheit“, ist sie sich sicher.

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Gedenken in Wien an die Ärztin Lisa-Maria Kellermayr.  

Sind Frauen mehr von digitaler Gewalt betroffen?

Doch wer übt diese digitale Gewalt aus? „Wir wissen seit Jahren, dass digitale Gewalt vor allem aus dem rechten und rechtsextremen Spektrum kommt“, sagt Ballon. Durch die hinzugekommenen Themen Impfen, Corona und mittlerweile auch die Unterstützung des Russlandkrieges sei es aber zu einer Vermischung und größeren Bandbreite der Themen gekommen.

Nach dem Tod der Ärztin berichteten in den Sozialen Medien auch einige weitere Frauen von ihren Erlebnissen mit Hass im Netz. Dass Frauen etwas stärker von digitaler Gewalt betroffen sind als Männer, erlebt auch Rechtsexpertin Ballon in ihrer täglichen Arbeit bei HateAid: „In unserer Beratung haben wir 60 Prozent Frauen, bei der Prozesskostenfinanzierung 73 Prozent“, sagt sie. „Das spricht dafür, dass die digitale Gewalt, die Frauen erleben, oft drastischer und daher justiziabler ist.“

Generell beobachtet sie: „Frauen werden im Internet anders angegriffen, viel sexualisierter und auf ihr Aussehen fokussiert.“ Es gebe dementsprechend gegen Frauen auch mehr Vergewaltigungsandrohungen als gegen Männer. Auch Männer erlebten natürlich digitale Gewalt, dort gebe es aber noch häufiger einen Sachbezug als bei Frauen.

Kritik an deutscher Justiz

Beim Umgang mit der digitalen Gewalt kritisiert Ballon auch die deutsche Justiz: „Im deutschen Rechtssystem ist es wahnsinnig einfach, Beleidigung und Verleumdung im Internet gar nicht zu verfolgen“, sagt sie. Wenn solche Fälle von der Justiz „mangels öffentlichen Interesses“ eingestellt würden und auf den Privatklageweg verwiesen werde, sei das bitter. „Hasskriminalität im Internet muss man verfolgen“, so ihre Meinung.

Hier gibt es Hilfe

Haben Sie Suizidgedanken? Dann wenden Sie sich bitte an folgende Rufnummern: Telefonhotline (kostenfrei, 24 h), auch Auskunft über lokale Hilfsdienste: 0800/111 0 111 (ev.); 0800/111 0 222 (rk.); 0800/111 0 333 (für Kinder/Jugendliche); per E-Mail unter www.telefonseelsorge.de

Das System sei noch auf „Beleidigungen am Gartenzaun“ eingestellt, doch die Beleidigungen heute im Internet hätten viel mehr Reichweite und damit auch Auswirkungen. „Das ist unberechenbar in rechten Strukturen“, warnt sie. „Man weiß nicht, wer das liest, wer am Ende wirklich so einem Aufruf folgt.“

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