NachrufZuletzt noch einmal Mozart

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Helmut Müller-Brühl. (Bild: Rakoczy)

Helmut Müller-Brühl. (Bild: Rakoczy)

Mitunter stimmt das Klischee mit der Wirklichkeit überein: Helmut Müller-Brühl war tatsächlich ein Urgestein der Kölner E-Musik-Szene, und das über Jahrzehnte hinweg, eigentlich seit den ausgehenden 50er Jahren. Ältere Kölner Musikfreunde erinnern sich – sicher gerne – an die Brühler Schlosskonzerte der 60er und 70er Jahre, die Müller-Brühl ins Leben gerufen hatte, damit ein seinerzeit neues Konzept umsetzend: Im Zweiklang der Barockarchitektur des Treppenhauses von Schloss Augustusburg und der gleichsam für sie komponierten Musik des 18. Jahrhunderts vermochten sich beide aneinander zu einem Kunsteffekt sui generis zu steigern.

Müller-Brühl fuhr stets – das machte einen Gutteilseines regionalen wie internationalen Erfolgs aus – hart am Wind der Zeit, antwortete instinktsicheraufVeränderungen in der Klassikbranche: Auf die Durchsetzung der historischen Aufführungspraxis reagierte er – 1976 – mit der Umstellung „seines“ Orchesters, des Kölner Kammerorchesters, auf historisches Instrumentarium. „Capella Clementina“ nannte es sich fortan. 1988 folgte – mit der Gründung der bis heute bestehenden Abo-Reihe „Das Meisterwerk“ in der neuen Kölner Philharmonie – die Rückkehr zu modernen Instrumenten, die fortan „historically informed“ zu spielen hatten. Modern, alt und schließlich die Synthese aus beidem – ein dialektisches Triptychon, wie es sich im Wandel der Zeiten nicht schlüssiger darstellen könnte.

Nun ist Müller-Brühl 78-jährig an seinem Geburts- und Heimatort (dem sich auch die zweite Namenshälfte verdankt) gestorben. Die Todesnachricht wurde erwartet, denn dem Dirigenten ging es schon seit längerem nicht mehr gut: Ein Hirntumor – makabrerweise dieselbe Krankheit, an der vor wenigen Jahren seine Frau verschieden war – hatte seine Lebenskraft aufgezehrt. Dem unabwendbaren nahen Ende sah der tiefgläubige Katholik gefasst und gelassen entgegen, mit sich und seinem Lebenswerk im Reinen.

Fast bis zuletzt konnte man Müller-Brühl als Zuhörer bei den Auftritten des Kölner Kammerorchestersin der Philharmonie sehen, dessen Leitung er 2008 an Christian Ludwig abgegeben hatte. Aber es gibt auch ein künstlerisches Vermächtnis: Im Spätsommer vergangenen Jahres, kurz bevor die Krankheit weitere Tätigkeit unmöglich machte, hatte er sich noch einmal ins Aufnahmestudio – in den Sendesaal des Deutschlandfunks – begeben und für die „Meisterwerk“-Reihe beim Label Naxos Mozarts Divertimenti KV 251 und 334 eingespielt.

Künstlerisches Vermächtnis.

Die Aufnahme darf auch in emphatischem Sinn als Vermächtnis bezeichnet werden, denn Mozart war neben Bach das zweite Zentralgestirn an Müller-Brühls Komponistenhimmel. Ist es ein Dokument des Abschieds? In Anbetracht der Umstände will es fast so scheinen, aber der Hörer sollte sich selbstredend hüten, Opfer einer Mystifikation zu werden. Was allemal auffällt, ist die bei allem Gestenreichtum, aller rhetorischen Ausfeilung im Grundton lyrische Deutung, mit singenden Geigen und der gebührenden koloristischen Herausstellung der Bläser (Hörner und Oboe). Die Interpretation verzichtet auf effekthaschende Extreme, sucht aber nachdrücklich die dunklen Seiten, den doppelten Boden dieser angeblich so unproblematischen Musik auf.

Letztlich zeigt die Aufnahme wohl keinen „letzten Stil“, sondern kondensiert noch einmal das, was die Musik aus Barock und Klassik für Müller-Brühl und was Müller-Brühl für diese Musik war.

Über 200 Schallplatten- und CD-Aufnahmen von Stradella bis zum 19. Jahrhundert dokumentieren es: Müller-Brühl war von Haus aus ein Interpret mit lyrischer Grunddisposition. Man merkt es an der Durchgestaltung langsamer Sätze und am singenden Allegro der Geigen, also dem instrumentalen Metier, aus dem er selbst kam. Für eine vollends adäquate Realisation etwa Beethoven'scher Durchführungspartien fehlte ihm – die hochrespektable Fast-Gesamtaufnahme der Symphonien zeigt es – ein wenig die dramatische Energie und Unerbittlichkeit. Einen wachen Sinn hingegen hatte er etwa für Mozarts szenische Dispositionen: Mit Heras vermuteter Antwort auf Jupiters ruppige Machtgeste am Beginn der gleichnamigen Symphonie – „Nun sei doch nicht so böse“ – hatte er einen nahezu genialen Schlüssel für die Präsentation des antithetischen Hauptthemas gefunden.

Das Dirigieren hatte Müller-Brühl nie professionell gelernt, er kam, wie gesagt, von der Violine her. Seit 1955 hatte er, nach einem Bonner Studium der Theologie, Philosophie, Musikwissenschaft und Kunstgeschichte – in Luzern bei Wolfgang Schneiderhan Unterricht genommen und auch in dessen Festival Strings Lucerne mitgewirkt. 1958 gründete er dann das Kölner Streicherensemble als Hausorchester der Brühler Schlosskonzerte.

Mindestens so gut wie als Dirigent war er zeitlebens als Organisator. Müller-Brühl war ein glänzender Manager, hatte einen „feinen Riecher“ für gute Leute und verstand es beneidenswert, die internationale Interpreten-Creme de la creme in sein Orchester zu holen: Wilhelm Kempff, Igor Oistrach, Hernyk Szeryng, Jean-Pierre Rampal, Christoph Eschenbach, zuletzt noch Sebastian Knauer und Anna Gourari.

Müller-Brühls musikhistorischer Horizont war – daraus machte der im Gespräch erfrischend offene und temperamentvolle Mann nie ein Hehl – begrenzt: Beim frühen Schubert war Schluss. Brahms? „Total langweilig“; Mahler? „Schrecklich“. Von den Modernen fand allein der neoklassizistische Strawinsky Gnade. An Bach und Mozart hingegen liebte er die gestalthafte, durch keinen romantischen Dämmer getrübte Klarheit der Tonsprache. Als leidenschaftlicher Anwalt dieser Musik wird Müller-Brühl fehlen. Als Gestalt mit unverwechselbarem Profil ist er auch nicht zu ersetzen.

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