Nachruf auf Flutopfer„Mama, wir haben jetzt wirklich einen dicken Schutzengel“

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Oma Hedwig mit ihrer Enkelin Zoé: Die 70-Jährige starb 2021 während der Flutkatastrophe in Dernau im Ahrtal.

Oma Hedwig mit ihrer Enkelin Zoé: Die 70-Jährige starb 2021 während der Flutkatastrophe in Dernau im Ahrtal.

Dernau. In den Momenten, in denen Sonja Tetzlaff ihre Verzweiflung nicht unterdrücken kann und die Frage hochkommt, warum sie sich das Unvorstellbare nicht hat vorstellen können, ist es ihre Tochter Zoé, zehn Jahre alt, die sie ganz fest an sich drückt. „Mama, wir haben ja jetzt wirklich einen dicken Schutzengel im Himmel, der auf uns aufpasst.“

Oma Hedwig ist tot. Sie hat das Inferno, das in der Nacht zum 14. Juli auch über das beschauliche Örtchen Dernau an der Ahr hereinbricht, nicht überlebt. Die 70-Jährige, die nach zwei Knie-Operationen auf einen Rollator angewiesen ist, ertrinkt in ihrer Wohnung im Erdgeschoss eines Mehrfamilienhauses, das so weit von der Ahr entfernt liegt, „dass ich niemals auf den Gedanken gekommen wäre, es könne auch sie betreffen.“

Sonja Tetzlaff wohnt vielleicht 600 Meter von ihrer Mutter entfernt, in unmittelbarer Nähe des Flusses. „Ich war zuhause und mir war am Mittag schon klar, dass diese Flut das Hochwasser von 2016 übertreffen wird. Damals war bei uns nur der Keller vollgelaufen.“

Um halb sechs bringt Sonja Tetzlaff den Hund in Sicherheit. Nach Bonn, zu ihrem Freund. „Meine Mutter hat noch gesagt, bring Zoé doch so lange zu mir. Aber meine Tochter wollte Gott sei Dank nicht und ist mitgefahren.“ Sie fährt über Ahrweiler, weil sie schon gehört hat, dass in Esch die Straßen unpassierbar sein sollen. „Auch in Dernau war die Ahr schon sehr hoch und mir war klar, auf diesem Weg kommst du wahrscheinlich nicht mehr zurück. Da wird die Hauptstraße schon geflutet sein. Das gab es auch früher schon mal.“

Das bestätigt sich. Doch was danach geschieht, hat sich in Dernau niemand jemals vorstellen können. Sonja Tetzlaff will zurück und scheitert. Sie kann ihr Haus nicht mehr erreichen. Sie entscheidet sich, mit ihrer Tochter bei ihrem Freund in Bad Godesberg zu übernachten. Mit ihrer Mutter steht sie in ständigem Kontakt.

„Wir haben gerade noch draußen gestanden“, beruhigt Hedwig Kampshoff ihre Tochter. „Bei mir war die Freiwillige Feuerwehr. Die haben uns gesagt, das Wasser wird bei mir bis zur Fensterbank steigen.“ Das habe sie ein wenig beruhigt.

19.31 Uhr: „Ich habe keinen Strom mehr"

Die Stimme stockt. Sonja Tetzlaff zeigt den Chatverlauf einer Katastrophe, die sich nicht mehr verhindern lässt. 19.31 Uhr: „Ich habe keinen Strom mehr“, schreibt Oma Hedwig.

Sonja ist wieder in Bad Godesberg und in Sicherheit. „Wir haben die Feuerwehr angerufen und gesagt, dass meine Mutter wahrscheinlich eingeschlossen ist. Die Antwort war, dass sie da nicht mehr durchkommen.“

21.37 Uhr: „Sitze am Tisch. Das Wasser steht in der Wohnung"

Der Vermieter, der neben ihrer Mutter auf der gleichen Etage wohnt, ist nicht zuhause. Um 21.37 Uhr ruft Hedwig Kampshoff ihren Schwiegersohn an. „Sebastian hebt nicht ab. Sitze am Tisch. Bei mir steht das Wasser in der Wohnung.“ Um 22.41 Uhr kommt die letzte Nachricht. Dann bricht der Kontakt ab.

Die Familie lebt erst seit zehn Jahren an der Ahr und ist dort sehr schnell heimisch geworden. Hedwig Kampshoff stammt aus Barlo am Niederrhein. Die Eltern haben einen Bauernhof, dort wächst sie mit sieben Geschwistern auf. „Vier Jungs und vier Mädchen“, erzählt ihre Tochter. Hedwig lernt Hauswirtschafterin in einem Kloster und arbeitet viele Jahre in der Küche des Rheder Krankenhauses. In Barlo nennt man sie liebevoll „Kleini“ oder „Heti“. „Sie war immer verständnisvoll und hatte für jeden ein offenes Ohr.“

Als ihre Tochter sich entschließt, in die Nähe der Familie ihres Ex-Mannes zu ziehen, „war das für meine Mutter gar keine Frage, dass sie mitkommt. Sie wollte bei ihrer Familie bleiben. Ich bin ihre einzige Tochter“, sagt Sonja Tetzlaff.

Mit ihrer lebenslustigen und aufgeschlossenen Art findet Oma Hedwig in Dernau schnell Anschluss. Sie hilft in einer Straußwirtschaft, man kennt sie im Ort. Als ihr das Gehen nach zwei Operationen mit den neuen Kniegelenken und wegen ihrer Lungenkrankheit immer schwerer fällt, entdeckt sie das Internet. Sie knüpft über Facebook neue Kontakte, verabredet sich zu Online-Spielen. „Sie hatte immer das neueste Tablet und wurde sofort nervös, wenn das Netz mal gestört war.“

Ihr größter Schatz aber ist ihr Enkelkind. Regelmäßig kommt Zoé nach der Schule zum Mittagessen vorbei, häufig bringt sie dabei ihre beste Freundin mit. „Zoé war ihr ein und alles.“ Als sie noch besser laufen kann, fahren die beiden zusammen häufig mit dem Zug nach Bonn zum Einkaufen. „Wenn ich mal gesagt habe, sie solle Zoé nicht zu sehr verwöhnen, hat sie nur geantwortet: ‚Ich bin die Oma. Ich darf das!‘“

Sonja Tetzlaff lächelt, wenn sie sich an diese Diskussionen erinnert. Heute sei sie froh über jede Minute, die Zoé mit ihrer Oma verbringen konnte. Das sei ein tröstlicher Gedanke. „Jetzt weiß ich erst, wie kostbar diese Zeit für beide gewesen ist. Zoé hat ihr viele Dinge anvertraut, die sie mit mir nicht besprechen wollte. Auch während der Trennung. Wenn da etwas nicht stimmte, ist sie zu ihrer Oma gegangen.“ Das habe viel dazu beigetragen, dass Zoé das Auseinanderbrechen der Familie besser verarbeiten konnte.

Sonja Tetzlaff hat alles verloren. Die Mutter gestorben, ihre eigene Wohnung wurde ihr gekündigt, weil der Vermieter sie selbst braucht. „Der zweite Stock ist der einzige, der im Moment noch bewohnbar ist", sagt sie.

Mehr als ein paar Bilder von Oma Hedwig sind ihr nicht geblieben. Mit viel Glück hat sie in Dernau ein neues Zuhause gefunden. Ein kleines Haus mit Garten, das bis auf das Dachgeschoss aber auch komplett saniert werden muss. Es gibt noch keine Küche, das Gas wird in Flaschen angeliefert.

„Das hier war ein kleines Paradies"

Es wird noch bis ins Frühjahr dauern, ehe sie mit ihrer Tochter dort so leben wird, dass beide von einem neuen Anfang sprechen können. Zoé ist gerade aufs Gymnasium nach Bad Neuenahr gewechselt. Der Unterricht findet immer noch provisorisch statt – dreieinhalb Stunden am Nachmittag. Ende November soll das Gymnasium wieder den regulären Betrieb aufnehmen – in Schulcontainern.

„Zoé wollte nicht weg. Sie ist hier groß geworden und hat sich total wohlgefühlt“, sagt Sonja Tetzlaff. „Das war hier wie ein kleines Paradies.“ Sie sei fest entschlossen, diesen Zustand wiederherzustellen. „Wenn es mir mal schlecht geht, sagt meine Tochter immer: ‚Mama, wenn Du nochmal weinst, dann klatsche ich Dir eine. Die Oma hätte das nicht gewollt.‘“

Dieser Text ist zuerst im November 2021 erschienen. Die Redaktion erinnert zum zweiten Jahrestag der Flut-Katastrophe an die Opfer.

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